Anatomien
Jahrzehnte“ möglich werden könne. Durch seine Vorträge machte er sich einen Namen, und seine Äußerung, bald könnten Menschen „tausend Jahre alt“ werden, wurde von den Medien begierig aufgegriffen. Kurze Zeit später formulierte er dieseAussage noch einmal um: Der erste Mensch, der tausend Jahre alt werden könnte, sei vielleicht schon unter uns.
Und doch sind de Grey zufolge seine Voraussagen über die Langlebigkeit noch das, was am wenigsten Leute anstößig finden. In rauere Fahrwasser geriet er mit seiner Liste der Erkenntnisse, die nötig seien, um das Leben des Menschen erst einmal um einige Jahrzehnte zu verlängern. Alles Weitere, verkündet er, sei dann relativ leicht. Auf der Liste stehen sieben Todesursachen, die alle damit zu tun haben, dass Zellen durch äußere Einwirkung beschädigt oder kontaminiert und unter Umständen nicht ersetzt werden. Wenn man alle sieben erfolgreich bekämpfe, dann sei ein wirklich sehr viel längeres Leben denkbar. Dieser Wunschzettel gab de Greys Projekt den Anschein des Praktikablen und setzte die Biologie dem Verdacht aus, sich nicht genug um die Verbesserung unserer Überlebenschancen zu kümmern. „Damit habe ich es vielen sehr schwer gemacht. Sie finden keine Lücke in meiner Argumentation. Sie haben Angst davor, dass ich recht habe“, sagt de Grey.
Auch die Strukturen, die de Grey um sich herum aufgebaut hat, unterstreichen, wie ernst es ihm ist. Er war an der Gründung der SENS-Stiftung beteiligt, die nicht in Cambridge, sondern im optimistischeren Kalifornien ansässig ist und Spenden für den wissenschaftlichen Kampf gegen das Altern sammelt, und stiftete den Methusalem-Maus-Preis für einen Wissenschaftler, dessen Arbeiten die Lebensdauer einer Labormaus deutlich verlängern. Zu den Spendern gehören Ingenieure und Science-Fiction-Fans, Fitness-Fanatiker und Hinterbliebene, die an ihre verstorbenen Angehörigen erinnern wollen.
Vielleicht hat die Wissenschaft tatsächlich etwas versäumt. Aber de Grey hat auch für die Populärkultur fast nur Verachtung übrig. Überraschend wütend ist er auf Science-Fiction-Autoren, die sich mit dem Thema befassen. „Die wollen ihre Leser doch einfach nur unterhalten“, sagt er, „und tragen damit indirekt zu der Wahrnehmung bei, dass der Tod etwas Annehmbares sei. Ich finde das ziemlich tragisch und widerwärtig. Jetzt, wo das Ziel durch die Biotechnologie tatsächlich in Reichweite gerät, dürfen wir nicht unserer Angst nachgeben. Natürlich macht uns der Gedanke an die Unsterblichkeit Angst, das war schon immer so in allen Kulturen. Nur die Biogerontologen haben keine Angst, die haben andere Gründe, mich zu hassen“, sagt de Grey kokett.
De Grey bekam 2005 die Macht des wissenschaftlichen Establishments zu spüren. Die vom Massachusetts Institute of Technology herausgegebene, angesehene Zeitschrift Technology Review brachte einen Bericht über ihn, den Sherwin Nuland verfasst hatte, in de Greys Worten ein „Unterstützer des Alterns“. Nuland schrieb gegen de Greys visionären Idealismus an – in einem Ton, der weise, von oben herab und fatalistisch klang. Die menschliche Lebenserwartung werde allenfalls ihr „wahrscheinliches biologisches Maximum“ von 120 Jahren erreichen. Dem Artikel vorgeschaltet war ein unverhältnismäßiger persönlicher Angriff der Redaktion auf de Grey. Solche Angriffe verstärken de Greys Selbstbild als umstrittener Außenseiter, der angefeindet wird, weil er recht hat. „Ich habe mir mittlerweile ein dickes Fell zugelegt“, sagt er.
De Grey, Voronoff und alle anderen, die sich mit der Verlängerung unserer Lebenserwartung beschäftigen, haben mit einem recht: Auf der Ebene einzelner Zellen gibt es so etwas wie die Unsterblichkeit. Nicht alle Zellen sterben. Besonders die Urkeimzellen zeichnen sich durch „biologische Unsterblichkeit“ aus. Die Gründe für die Sonderstellung dieser Zellen werden weiterhin untersucht. Der Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert, stets ein eifriger Verfechter wissenschaftlicher Rationalität, zeigt sich in dieser Frage überraschend versöhnlich gegenüber den Immortalisten. Er glaubt nicht, dass sie Erfolg haben werden, aber er hält sie auch nicht, wie die Herausgeber der Technology Review, für „durchgeknallt“. Ei- und Samenzelle altern nicht – nur die Zellen, die sich nach der Befruchtung bilden und zum Embryo auswachsen, sind sterblich. „Deshalb sind womöglich alle Todesursachen unnatürlich“, sagte Wolpert 2011 im Interview
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