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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Jahre verlängert, in Großbritannien allein innerhalb der letzten acht um zwei volle Jahre. In den meisten entwickelten Ländern liegt die Lebenserwartung inzwischen bei etwa 80 Jahren. Die Steigerungsraten sind relativ stabil, und unklar ist, ob oder wann ein Ende der Entwicklung erreicht wird.
    Der zweite Faktor ist natürlich der Tod, der seinen Schatten vorauswirft. Der amerikanische Chirurg und Autor Sherwin Nulandstellte fest, dass heute niemand einfach an Altersschwäche sterben dürfe. Nationale Gesundheitsbehörden und die Weltgesundheitsorganisation WHO verlangen in ihren Statistiken für jeden Todesfall eine Todesursache. „Jeder muss an etwas Benennbarem sterben.“ Nützlich sind diese Daten ganz offensichtlich für Gesundheitsplaner und Versicherer, die die Sterblichkeitsraten bei bestimmten Krankheiten und Unfällen berechnen müssen. Aber alle Tode? Warum finden wir, dass alles einen Grund haben muss? Entschädigt uns das Wissen um die Todesursache für irgendetwas? Was sagt diese Angelegenheit über unseren Umgang mit dem Tod aus? Wir stellen uns den Tod immer mehr wie einen Unfall vor, den wir mit ein bisschen Vorsicht herauszögern und vielleicht sogar ganz umgehen können. Der Tod eines 85-Jährigen könnte etwas ganz Natürliches sein, das wir fraglos hinnehmen. Aber wenn wir erfahren, dass der 85-Jährige wie Serge Voronoff an den Folgen eines Sturzes gestorben ist, stellen sich einige Fragen: Wie ist er gestürzt? Wäre der Sturz zu verhindern gewesen? Gab es Komplikationen? Wären sie vermeidbar gewesen? Was wäre passiert, wenn er nicht gestürzt wäre? Wie lange hätte er noch gelebt?
    Die Visionäre von heute wollen das Leben nicht nur ein bisschen verlängern, sondern um viele Jahre. Sie glauben, dass sie die nötigen wissenschaftlichen Mittel bald besitzen werden. Ihre Herangehensweise beruht nicht mehr darauf, besonders langlebigen Menschen oder Tieren irgendetwas abzugewinnen und dadurch das eine oder andere Leben um ein oder zwei Jahre auszudehnen. Sie sind weit ambitionierter, und ihre Einstellung widerspricht womöglich allen herkömmlichen biologisch begründeten Denkmodellen, denn sie halten den Tod, kurz gesagt, für ein technisches Versagen. Nun wollen sie die Gründe für dieses Versagen identifizieren und für einen nach dem anderen eine wirksame Vermeidungsstrategie entwickeln. Die radikalsten unter ihnen nennt man Transhumanisten oder spezifischer: Immortalisten.
    Ihre schillerndste und umstrittenste Figur ist Aubrey de Grey, der Mitbegründer der SENS-Stiftung. SENS steht für Strategies for Engineered Negligible Senescence, also etwa „Strategien zur Bekämpfung des Alterns“. De Grey war am genetischen Institut der Universität Cambridge tätig und verlieh dem Projekt einen seriöseren Anstrich. So ganz sauber ist das nicht, denn er ist von Haus aus Informatiker und arbeitete als solcher bei den Genetikern. Für die Genetik interessiert er sich erst, seit er eine Genforscherin heiratete.
    Wir treffen uns in einem Pub am Fluss, weit außerhalb von Cambridges akademischer Mitte. Wenn man vom Bier absieht, wirkt de Grey wirklich wie ein Guru. Er hat sogar den bis zum Nabel reichenden Bart, den er gedankenverloren streicht, während er mir mit routinierter Stimme von seiner medialen Karriere erzählt. Seine ersten, theoretischen Artikel erschienen in gerontologischen Fachzeitschriften und argumentierten, das Altern habe etwas mit Oxidatoren und anderen Freien Radikalen zu tun, also Molekülen mit unpaarigen Elektronen, die den Zellen des Körpers Schaden zufügen. De Grey umriss einen komplizierten Mechanismus, dem zufolge die mutierte DNA der Mitochondrien, der Kraftwerke einer jeden Zelle, die Abwehrkräfte der Zelle gegen Angriffe von Freien Radikalen schwächt. Darüber schrieb er ein Buch, das ihm 2000 einen Doktortitel einbrachte. Dann erkannte er, dass die Mitochondrien-DNA nur ein Aspekt unter vielen war, die für das Altern verantwortlich sind. Seine Spekulationen wurden immer großflächiger und im Ton polemischer. Bald veröffentlichte er Artikel unter so provokativen Überschriften wie „Ansichten eines Ingenieurs über die Entwicklung wirksamer Mittel gegen das Altern“ oder „Ist das Altern wirklich noch ein solches Geheimnis, dass wir den Umgang damit der Wissenschaft überlassen sollten?“ Er erkühnte sich, nicht nur über ein mögliches Ende des Alterungsprozesses zu sprechen, sondern sogar über dessen Umkehr, die schon „innerhalb der nächsten

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