Anatomien
schnitt er Ziegen- und Stierhoden in Streifen von einem halben Zentimeter Breite und transplantierte diese dann auf den Hodensack anderer Tiere. Er entschied sich für die Streifenform, um die Kontaktoberfläche zu maximieren und dadurch eine möglichst umfassende Gefäßneubildung anzuregen. Das war nötig, um zu vermeiden, dass das Transplantat abgestoßen wurde. Die meisten Tiere überlebten. Voronoffs 1926 veröffentlichte Memoiren enthalten das Bild des Stiers Jacky und seines nach der Transplantation gezeugten Nachwuchses.
Bevor er Jacky längerfristig beobachten konnte, hatte sich Voronoff allerdings bereits menschlichen Probanden zugewandt. In seinen Memoiren bedauert er, dass es gesetzlich verboten ist, einen Hoden zu spenden, obwohl der verbleibende die Aufgaben genauso gut allein erfüllen könne (schließlich funktioniere eine Niere oder sogar eine Gehirnhälfte ja auch ganz gut alleine). Stattdessen müsse er sich, wenn nicht gerade bei einem bedauernswerten Unfall etwas abfalle, „mit Affen begnügen“. Im Dezember 1913 pflanzte Voronoff einem Kind, das an Schilddrüsenüberfunktion litt, erfolgreich die Schilddrüse eines Schimpansen ein. Sechs Monate später führte er das Kind voller Stolz der Französischen Akademie für Medizin vor. „Dank der Transplantation sind alle Symptome verschwunden, und das Kind, das vorher beinahe wie ein Tier vor sich hin vegetierte, konnte hinsichtlich seiner Intelligenz und seines körperlichen Wachstums die bemerkenswertesten Fortschritte machen“, schrieb Voronoff später. „Der junge Jean, den ich 1913 als armen Schwachsinnigen kennengelernt hatte und der nur ein gering entwickeltes Gehirn und den Körper eines Achtjährigen besaß, bestand vier Jahre später die Musterung und leistete in den Schützengräben vorbildliche Dienste.“ Durch diesen Erfolg beflügelt, führte Voronoff im folgenden Jahrzehnt Hunderte von Transplantationen durch, bei denen er Affengewebe (und in mindestens einem Fall menschliches Hodengewebe) auf Menschen verpflanzte. Er versuchte sich auch an Eierstock-Transplantationen und pflanzte Eierstöcke von Affen vor allem in die äußeren Labien der Vagina ein, um die normale Hormonfunktion wiederherzustellen und vielleicht sogar einen Eisprung zu ermöglichen.
Seiner eigenen Aussage zufolge war das ein voller Erfolg. 1923 kam ein 83-jähriger Engländer in den Genuss von Voronoffs Therapie – „und er war so verwegen, meinen Ruheraum in Auteuil schon eine halbe Stunde nach der Operation zu verlassen, um mit seinem Automobil den Heimweg anzutreten“. Als Voronoff dies schrieb, war der Mann 85 und nach einem aktuellen Foto zu urteilen in einem besseren Zustand als je zuvor. Ein weiterer englischer Patient sieht auf einem im Alter von 74 Jahren aufgenommenen Foto schlaff und kränklich aus; mit 77 läuft er strahlend auf die Kamera zu.
Voronoff konnte sich allerdings langfristig nicht etablieren, und als er drei Jahrzehnte nach diesen Experimenten starb, nahm kaum jemand Notiz davon. In der Literatur lebt er fort, zum Beispiel in der Figur des ambitionierten Dr. Obispo in Aldous Huxleys Roman Nach vielen Sommern. Obispo hofft, die Langlebigkeit des Karpfens ausnutzen zu können, um das Leben seines an William Randolph Hearst erinnernden kalifornischen Arbeitgebers zu verlängern. In Michail Bulgakows Erzählung Hundeherz implantiert der Moskauer Professor Preobrashenski einem Straßenhund die Hoden und die Hirnanhangdrüse eines Menschen. Sofort legt der Hund die schlimmsten Eigenschaften sowohl des Menschen als auch des Hundes an den Tag und liefert so ein Zerrbild des neuen sowjetischen Menschen.
Serge Voronoffs verzweifelte Experimente erinnern uns daran, dass die größte medizinische Leistung wohl in der Verlängerung des menschlichen Lebens bestünde. Wer hätte schon etwas dagegen, einige Jahre oder sogar Jahrzehnte länger gesund zu bleiben?
Zwei mächtige Kräfte stehen hinter dieser Überlegung, eine abstoßende und eine anziehende. Die erste ist die verführerische Vorstellung, die seit dem Beginn des Siegeszuges der modernen Medizin immer längere Lebenserwartung des Menschen noch weiter auszudehnen. Wenn wir die gesamte Menschheitsgeschichte betrachten, hat sich die Lebenserwartung verdreifacht. 1750 hatte ein Schwede (Schweden hat über die Sterblichkeit seiner Bürger am genauesten Buch geführt) eine durchschnittliche Lebenserwartung von 38 Jahren. Seit 1950 hat sich die Lebenserwartung eines US-Amerikaners um neun
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