ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
Abschiedsseufzer.
Und nun stand sie wohl zwanzig Jahre auf dem Boden; sie hätte noch länger dort stehen können, wäre das Haus nicht umgebaut worden. Das Dach wurde abgerissen, und die Flasche gefunden und besprochen, aber sie verstand die Sprache nicht. Die lernt man nicht vom auf dem Boden stehen, selbst in zwanzig Jahren nicht. "Wäre ich unten in der Stube geblieben," sagte sie ganz richtig, "dann hätte ich sie wohl gelernt."
Sie wurde nun gewaschen und gespült und das hatte sie auch nötig; sie fühlte sich ganz klar und durchsichtig, sie wurde wieder jung in ihren alten Jahren; aber der Zettel, den sie in sich trug, war bei der Wäsche verloren gegangen.
Die Flasche wurde nun mit Samenkörnern gefüllt, von welcher Art, wußte sie nicht; sie wurde zugekorkt und gut eingewickelt und sah weder Licht noch Laterne, geschweige denn Sonne oder Mond, und etwas müsse man doch sehen, wenn man auf Reisen ginge, meinte die Flasche; aber sie sah nichts. Doch das Wichtigste tat sie - sie reiste und kam dorthin, wohin sie sollte; dort wurde sie ausgepackt.
"Was sie sich dort im Auslande für Umstände mit ihr gemacht haben" wurde gesagt, "und doch wird sie wohl gesprungen sein." Aber sie war nicht gesprungen. Die Flasche verstand jedes einzige Wort, das gesagt wurde; es war die Sprache, die sie am Schmelzofen und beim Weinhändler, im Walde und auf dem Schiffe vernommen hatte, die einzig richtige, gute alte Sprache, die man verstehen konnte. Sie war wieder in ihr Heimatland zurückgekommen, sie bekam ihren Willkommensgruß. Vor Freude wäre sie ihnen fast aus den Händen gesprungen; sie merkte es kaum, wie der Korken herausgezogen, sie ausgeschüttet und in den Keller gesetzt wurde, um weggestellt und vergessen zu werden. In der Heimat ist es doch am besten, selbst im Keller. Es kam ihr nie in den Sinn, darüber nachzudenken, wie lange sie dort lag, sie lag gut und lag jahrelang. Da kamen eines Tages Leute in den Keller herunter und holten mit den Flaschen auch sie herauf.
Draußen im Garten herrschten Pracht und Herrlichkeit. Brennende Lampen hingen an Girlanden. Papierlaternen strahlten wie transparente Tulpen; es war ein herrlicher Abend. Das Wetter war stille und klar, die Sterne blinkten hell und der Neumond stand am Himmel, eigentlich sah man den ganzen runden Mond wie eine blaugraue Kugel mit goldenem Rande und es sah gut aus für gute Augen.
Die Nebengänge waren auch illuminiert, wenigstens so hell, daß man darin vorwärtskommen konnte. Zwischen den Hecken waren Flaschen mit Lichtern aufgestellt. Dort stand auch die Flasche, die wir kennen und die dereinst als Flaschenhals enden sollte, als Vogelnapf. Sie fand in diesem Augenblicke alles unaussprechlich schön, sie war wieder im Grünen, nahm wieder teil an Freud und Fest, vernahm Gesang und Musik. das Geschwirr und Gesumm vieler Menschen, besonders von der Seite des Gartens, wo die Lampen brannten und die Papierlaternen ihre Farbenpracht zeigten. Sie selbst stand wohl abseits in einem Gang, aber just das regte sie zum Nachdenken an. Da stand nun die Flasche und trug ihr Licht, stand hier zum Nutzen und zur Freude, und das ist das Richtige: in solch einer Stunde vergißt man die zwanzig Jahre auf dem Boden, und es ist gut, das zu vergessen.
Dicht an ihr vorbei ging ein einzelnes Paar Arm in Arm wie das Brautpaar damals im Walde, der Steuermann und die Kürschnerstochter. Es war für die Flasche, als erlebe sie es noch einmal. Im Garten gingen Gäste und Leute, die diese und all die Pracht anschauen durften; unter diesen war auch ein altes Mädchen, die keine Verwandten mehr, wohl aber Freunde besaß. Sie dachte ganz an dieselben Dinge wie die Flasche, an den grünen Wald und ein junges Brautpaar, das sie recht nahe anging, war sie doch selbst der eine Teil desselben. Das war ihre glücklichste Stunde gewesen, und die vergißt sich nie, auch wenn man eine noch so alte Jungfer wird. Aber sie erkannte die Flasche nicht, und diese erkannte sie nicht, so geht man aneinander vorüber in der Welt - bis man sich wieder begegnet, und das taten die beiden, in der Stadt waren sie ja zusammengekommen.
Die Flasche kam aus dem Garten zum Weinhändler, wurde wieder mit Wein gefüllt und an den Luftschiffer verkauft, der am nächsten Sonntag mit dem Ballon aufsteigen sollte. Das war ein Gewimmel von Menschen, die alle zuschauen wollten; Regimentsmusik erschallte und Vorbereitungen wurden getroffen. Die Flasche sah alles von einem Korbe
Weitere Kostenlose Bücher