ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
das Land sei, daß dieser Mann krank darnieder läge und nicht wieder genesen könne: Wohltat und Segen würde es bedeuten, wenn er seine Gesundheit zurückerhielte. "Aber wo wächst die Blume, die ihm die Gesundheit wiedergeben kann?" Danach hatten alle gefragt, in gelehrten Schriften, blinkenden Sternbildern, in Wetter und Wind hatten sie es zu erforschen gesucht, alle Umwege waren sie gegangen, um es herauszufinden, und zuletzt hatten die Gelehrten und Weisen, wie gesagt, dies eine herausbekommen: "Die Liebe gebiert Leben, Leben für den Vater", und damit hatten sie mehr gesagt, als sie selbst verstanden. Sie wiederholten und schrieben es als Rezept auf: "Liebe gebiert Leben." Aber wie dies Ding zubereitet werden müsse, ja, da hatte die Sache ihren Haken. Zuletzt wurden sie darüber einig, daß die Hülfe von der Prinzessin kommen müsse, von ihr, die mit ganzer Seele und von ganzem Herzen ihren Vater liebte. Man fand endlich auch heraus, wie es zustande gebracht werden müsse, aber darüber waren Jahr und Tag vergangen. Sie solle in der Nacht nachdem der Neumond zum ersten Male untergegangen wäre, sich hinaus zu der Marmorsphinx in der Wüste begeben, den Sand von einer Tür am Fußende fortscharren, und dort durch den langen Gang gehen, der ins Innere einer der großen Pyramiden führt, wo ein mächtiger König aus alter Zeit, von Pracht und Herrlichkeit umgeben, in seiner Mumienhülle läge. Hier sollte sie ihr Haupt zu dem Toten hinabbeugen, dann würde ihr offenbart werden, wie Leben und Rettung für ihren Vater zu gewinnen wären.
Alles dies hatte sie ausgeführt und im Traume erfahren, daß sie aus dem tiefen Moor droben im dänischen Lande, die Stelle war ganz genau bezeichnet, die Lotosblume heimbringen müsse, die in der Tiefe des Wassers ihre Brust berühre. Dann könne er gerettet werden.
Und deshalb flog sie im Schwanenkleid vom Lande Ägypten zum Wildmoor hinauf. Seht, alles dies wußten Storchvater und Storchmutter und wir wissen es nun genauer, als wir es vorher wußten. Wir wissen, daß der Moorkönig sie zu sich herabzog, wissen, daß sie für die Ihren daheim tot und verschollen war; nur der Weiseste und die Storchmutter sagten noch immer: "Sie wird sich schon retten!" Und darauf wollte man warten, denn etwas Besseres wußte man nicht.
"Ich glaube, ich mause den beiden bösen Prinzessinnen die Schwanenkleider" sagte der Storchvater. "Dann können sie doch nicht zum Wildmoor und noch mehr Übel anrichten; die Schwanenkleider selbst verstecke ich dort oben, bis man einmal Verwendung für sie findet."
"Wo oben willst Du sie denn verstecken?" fragte die Storchmutter.
"In unserem Nest beim Wildmoor" sagte er. "Ich und unsere jüngsten Kinder könnten uns gegenseitig helfen, sie mitzunehmen. Und werden sie uns zu beschwerlich, so gibt es genug Orte unterwegs, wo sie bis zum nächsten Zuge versteckt bleiben können. Ein Schwanenkleid wäre wohl genug für sie, aber zwei sind besser; es ist immer gut, auf Reisen in den nordischen Ländern gut versehen zu sein."
"Du wirst keinen Dank ernten!" sagte die Storchmutter. "Aber Du bist ja der Herr. Außer der Brutzeit habe ich ja nichts zu sagen."
In der Wikingerburg am Wildmoor, wohin die Störche im Frühjahr zogen, hatte man dem kleinen Mädchen inzwischen einen Namen gegeben; Helga war sie genannt worden, doch der Name war allzu zart für einen Sinn, wie er dieses schöne Mädchen hier erfüllte. Monat für Monat wuchs sie kräftiger heran. Nach einigen Jahren, während die Störche stets die gleiche Reise im Herbst nach dem Nil im Frühjahr nach dem Wildmoor machten, wurde aus dem kleinen Kinde ein großes Mädchen, und ehe man sich dessen versah, war es zu der schönsten Jungfrau von sechzehn Jahren erblüht. Doch in der schönen Schale steckte ein harter, bitterer Kern; sie war weit wilderen Sinnes als die anderen Menschen dieser harten, finsteren Zeit.
Es war ihr eine Lust, ihre weißen Hände in das dampfende Blut der zum Opfer geschlachteten Pferde zu tauchen; sie zerbiß in ihrer Wildheit den Hals des schwarzen Hahns, den der Opferpriester schlachten sollte, und zu ihrem Pflegevater sagte sie in vollem Ernste:
"Käme Dein Feind, schlänge ein Seil um die Balken unseres Daches und höbe es von der Kammer, in der Du schliefest, ich würde Dich nicht wecken, ob ich es auch könnte. Ich würde es nicht hören, so saust mir noch immer das Blut im Ohr, auf das Du mir vor Jahren eine Ohrfeige gabst, Du! Ich
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