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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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für Gable gewesen wäre als Alexa. Sie hätte Visible
aufgegeben, um mit ihm zur See zu fahren, in meiner Phantasie
bildeten sie ein Paar: Stella mit dem stolzen, stählernen Gesicht
und Gable mit den traurigen Augen. Sie hatten mich schon als
Kind verwirrt, diese Augen, weil sie mir viel zu groß
vorgekommen waren für das Gesicht eines Seefahrers. Ich fand,
sie hätten kleiner sein müssen, vom Blinzeln in die gleißende,
vom Sonnenlicht aufs Wasser gezauberte Helligkeit oder vom
Zusammenkneifen zum Schutz gegen den in sie
hineinfahrenden Wind bei rauem Wetter.
    Gable machte mich mit dem kleinen Schiff vertraut. Er
erklärte mir Taue und Segel, die mir zunächst als kaum
entwirrbares Durcheinander erschienen, bis ich sie anhand ihrer
Funktion voneinander zu unterscheiden lernte. Das war während
der ersten Tage an Bord, die ich in einem Zustand halb wachen,
halb schlafenden Bewusstseins verbrachte. Ich war fort von
Visible, fort von der Stadt und den Kleinen Leuten; inmitten
eines plötzlich expandierten Universums war die mir vertraute
Welt zusammengeschrumpft zu einem winzigen, kaum
nadelstichgroßen Fleck auf einer Karte, die jetzt von Wasser
beherrscht wurde. Alles schien verändert, selbst das Licht haue
eine andere Qualität. Als herrschten in diesen Breitengraden
zwischen den Molekülen größere Abstände, floss es einfach
durch alles hindurch, durch Hanf und Holz und Stahl, so dass
nichts von greifbarer Substanz schien. Der Wind schmeckte
nach Salz und schien von unberechenbarer Kraft, manchmal
hatte ich das Gefühl, mich nur von einer plötzlichen Brise
davontragen lassen zu müssen und ewig darauf schweben zu
können. Gable steuerte das Schiff in einem scheinbar
willkürlichen Zickzackkurs über das Meer, das sich in mehr
Schattierungen von Blau präsentierte, als die Palette eines
Malers hätte hervorbringen können. Ich war wie berauscht. Die
Zeit hatte uns vergessen, ein festes Ziel kannten wir nicht. Oft
legten wir in kleinen und kleinsten Häfen an, und immer wieder
überraschte es mich, wie viele Leute mein Onkel kannte:
Fischer und Tavernenbesitzer und Reeder; die Kapitäne und die
Mannschaftsmitglieder anderer kleiner Schiffe. Einige von
ihnen sahen verschlagen aus. In früheren Zeiten, so beschloss
ich, waren solche Männer Piraten gewesen, gesetzlose
Freibeuter, nur sich selbst und ihrem Wunsch nach
bedingungsloser Freiheit verpflichtet. Geschichten, die ich
bisher nur aus Gables Erzählungen kannte, wurden plötzlich
konkret: in diesem Hafen hatte er harmlose Schmuggelware
erstanden, in jenem sich betrunken und war anschließend ohne
Brieftasche in irgendeiner Seitengasse aufgewacht; vor dieser
Küste hatte er beobachtet, wie Delphine einen Hai zur Strecke
gebracht hatten; vor jener, wie ein toter Schwammtaucher aus
den Wellen geborgen wurde, in der blauweiß marmorierten, zur
Faust geballten Hand keine Porifere, sondern eine Perle von
geradezu unglaublicher Größe, heraufgeholt aus todbringender
Tiefe.
    »Diese Männer können bis zu vier Minuten unter Wasser
bleiben«, erklärte Gable.
»Wie schaffen sie das?«
»Oh, Übung, nehme ich an. Oder ein Wunder.« Er lachte.
»Das ganze Leben ist ein Wunder, Phil.«
Wie Händel mir Wochen später erklärte, als ich ihn zu Hause
nach diesem Phänomen befragte, können Tieftaucher in einer
Art meditativer Bewusstheit ihre Körpertemperatur und damit
ihren gesamten Stoffwechsel so weit senken, dass sie weniger
Sauerstoff verbrauchen als unter normalen Umständen. Alles
Physik, befand Händel, und machte so auf seine eigene
launische Art die Welt für mich um ein Wunder ärmer.
Gable konnte Stunden damit verbringen, unbewegt das
Farbenspiel und den Wellengang des Wassers zu beobachten. Er
liebte das Mittelmeer, und das Meer liebte ihn. Wenn ich ihn
beim Schwimmen beobachtete – wenn der breite, tiefbraune
Rücken sich nach einem kräftigen Armzug hoch aus dem
Wasser hob, um gleich darauf wieder zu versinken, und
besonders danach, wenn Gable sich an der Bordwand der Jolle
nach oben zog -, dann hatte ich immer den Eindruck, dass das
Wasser sich weigerte, mit derselben Geschwindigkeit an ihm
herabzulaufen wie an mir oder an anderen Menschen. Es floss
und perlte in einer unmöglichen Zeitlupe von ihm ab, als wolle
es so lange wie möglich an ihm haften bleiben.
»Ich weiß nicht, warum es mich immer wieder hierher
zurückzieht«, sagte Gable. »Vielleicht, weil ich mich am
wohlsten fühle,

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