Andreas Steinhofel
Ruhe zu
lassen.«
»Cross my heart…«, sage ich hastig. Meine Augen gewöhnen
sich langsam an die Dunkelheit. Ich sehe Glass gestikulieren.
Ihre Hände sind zwei vage, blass schimmernde Flecken, große
Nachtfalter, die einander müde umflattern.
»Erstens: Gib ihm bloß nicht zu erkennen, dass er die erste
Verabredung deines Lebens ist. Das wird ihn genauso nervös
machen wie dich, und wenn ein sexuell erregter Mann zu nervös
ist…«
»Glass, kein Mensch redet hier von sexueller Erregung!«
»Zweitens: Frage ihn nie, ob er dich liebt.«
»Wieso nicht?«
»Wenn er mit Nein antwortet, wünschst du dir, du hattest nie
gefragt. Sagt er ja, kannst du nicht sicher sein, ob er es nur
deshalb tut, weil er keine Lust auf eine hässliche Szene hat. In
beiden Fällen bist du sturzunglücklich.«
»Er könnte doch auch ja sagen und es ehrlich meinen.«
»Wie alt ist er?«
»Nicht so alt wie Michael.« Es ist zu dunkel um sehen zu
können, ob oder wie Glass auf diesen kleinen Seitenhieb
reagiert. »Achtzehn oder so.«
»Dann meint er es vielleicht wirklich noch ehrlich.«
Die Dielen knarren, als ich mein Gewicht von einem auf den
anderen Fuß verlagere. »Und drittens?«
»Wasch dich unter den Armen.«
»Sehr witzig, Mum!«
»Gute Nacht, und auf Wiedersehen beim Frühstück.«
»Blöde Kuh.«
»Ich liebe dich auch, Darling.«
So viel zu liebender mütterlicher Fürsorge, denke ich,
während ich die Treppen zurück nach oben nehme. Wenn
überhaupt, hat mich die ganze Aktion nur noch unruhiger
gemacht. Einem plötzlichen Impuls folgend, laufe ich durch den
Flur schnurstracks auf Diannes Zimmer zu und klopfe an.
Keine Antwort.
Ich klopfe noch einmal, dann öffne ich vorsichtig die Tür.
Dianne ist nicht da. Durch zwei vorhanglose Fenster sickert
Mondlicht in den Raum, spiegelt sich matt auf dem stumpfen
Parkett, es ist, als bewege man sich auf Nebel. Diannes Zimmer
ist nüchterner eingerichtet als das Wartezimmer eines Arztes:
ein altersschwacher Kleiderschrank aus dem Besitz Stellas, eine
Matratze auf dem Fußboden, abgedeckt mit einem einfarbigen
Überwurf; daneben eine schlichte kleine Stehlampe. In einem
einzelnen Regal eine Hand voll Bücher und allerlei
Krimskrams. Keine Bilder oder Poster an den weiß getünchten
Wänden; die von ihrer Pflanzenliebe zeugenden Herbarien und
Bücher befinden sich in der Bibliothek. Vor einem der Fenster
ein wackeliger Schreibtisch, auf dessen Arbeitsfläche eine fast
peinliche Ordnung herrscht; Papiere liegen Kante auf Kante,
einzelne Stifte ruhen, der Länge nach geordnet, aufgereiht
nebeneinander, ihre geschärften Spitzen bilden eine gerade
Linie.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass keiner von uns das
Zimmer des anderen betritt, wenigstens nicht in dessen
Abwesenheit. Dass ich es dennoch getan habe, entschuldige ich
vor mir selbst mit meiner Ruhelosigkeit. In Wirklichkeit ist es
blanke Neugier, angefacht von Diannes nächtlichem
Verschwinden. Aus derselben Neugier heraus öffne ich jetzt die
unverschlossenen Schubladen ihres Schreibtisches.
Und, is das ‘n schönes Gefühl?
Ja, Annie… O ja!
Schon ma der Mamma Geld aussem Pottmanee geklaut?
Der Schwester unters Röckchen geguckt?
An nackte Jungs gedacht un dir einen bei runtergeholt?
Die Briefe liegen in der mittleren Schublade. Der Dicke der
Umschläge nach zu urteilen, in denen sie stecken, müssen sie
von beträchtlicher Länge sein. Und es sind nicht zwei oder drei
Umschläge; es sind Dutzende, geschrieben, versiegelt und nie
abgeschickt, aus welchem Grund auch immer. Ich mustere jeden
einzelnen von ihnen, als könnte ich, wenn ich nur lang genug
darauf starre, durch ihn hindurchsehen und den Inhalt lesen. Auf
jedem Umschlag steht ein einziges Wort.
Zephyr
Der Name eines Jungen oder eines Mädchens, eines Mannes
oder einer Frau? Jedenfalls jemand, den ich nicht kenne, von
dem ich noch nie gehört habe. Jemand, vielleicht das Mädchen
von der Bushaltestelle, der Dianne dazu bewegt, Visible mitten
in der Nacht zu verlassen – Glass würde einen Anfall
bekommen, falls sie je davon erführe. Seit wann unternimmt
Dianne diese Ausflüge? Wie oft war sie nachts schon
unterwegs?
Nie ist mir klarer bewusst als in diesem Moment, wie fremd
Dianne mir geworden ist. Plötzlich, allein in ihrem Zimmer,
allein zwischen ihren Geheimnissen, die Briefe in der Hand,
muss ich an die Schlacht am Großen Auge denken. Der Tag, an
dem meine Schwester sich schützend vor mich gestellt und
dafür
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