Andreas Steinhofel
mit einem Messerstich bezahlt hat, scheint Ewigkeiten
zurückzuliegen. Liebe und Loyalität bedingen sich gegenseitig:
Damals kam mir das selbstverständlich vor. Heute ist von
beiden kaum noch etwas zwischen Dianne und mir übrig.
Keiner meiner Versuche in den letzten Jahren, an sie
heranzukommen, ist erfolgreich gewesen. Aber vielleicht,
überlege ich jetzt, habe ich einfach nicht heftig genug gedrängt,
mir zu wenig Mühe gegeben. Unsere Unterhaltung gestern
Abend auf der Veranda, auch wenn sie eher einem Streit
geglichen hat, ist wenigstens so etwas wie ein Anfang gewesen.
Ich lege das Bündel Briefe zurück in die Schublade, trete an
eines der Fenster und sehe hinaus in den wolkenlosen
Nachthimmel. Der halb volle Mond schimmert in einem
unwirklich fahlen Weiß, wie man es von überbelichteten Fotos
kennt. Gebirge und Täler zeichnen sich als tintendunkle Flecken
auf seiner Oberfläche ab. Er wirkt so plastisch, dass ich als Kind
geglaubt habe, nach ihm greifen zu können.
DAS SCHRIEB ICH AUF: Einst war Sommer, und es waren
drei Kinder, ein träumender, blassblonder Junge und zwei
Mädchen von ungleicher Schönheit, die stiegen hinab in die
Kanalisation der Stadt. Dort verirrten sie sich zwischen Unrat
und stinkenden Fäkalien, und aus der Dunkelheit stieg das
empörte Flüstern aufgescheuchter Ratten.
Das erste Mädchen begann laut zu schreien. Es hoffte, die von
den feuchten Wänden erzeugten Echos würden einen Weg aus
dem Labyrinth zeigen, doch keine Stimme war laut genug im
Irrgarten der gewölbten Gänge.
Das zweite Mädchen sprach leise zu den Ratten.
Gib uns den silbernen Anhänger, den Halbmond, den du um
den Hals trägst, forderte die Königin der Ratten. Dann weist
euch einer meiner Untertanen einen Weg zurück an den Tag.
Einverstanden, erwiderte das Mädchen, doch machen wir den
Tausch perfekt.
Es verbeugte sich ehrfürchtig, überreichte der Königin der
Ratten den geforderten Pfand, und dann ergriff es eines der
Tiere und blendete es, denn nur der wirklich Blinde, so sagte
das Mädchen, findet das Licht.
So gelangten die drei Kinder zurück an den Tag.
Später stieg der Junge allein zurück in die Kanalisation. Er
hatte sich den Weg gemerkt, den der blinde Führer gewiesen
hatte, und so fand er ohne Mühen zu der Stelle, an der erst
gestern oder vor vielen Wochen alle Hoffnung verloren
gewesen war.
Er hatte ein Messer mitgebracht. Mit dem tötete er die Ratten,
mit dem trennte er der Königin des Volkes den Kopf vom
Rumpf. Der Anhänger, den zu holen er gekommen war, war
unversehrt. Nur einige Tropfen schwarzen Blutes blieben darauf
zurück, sie hafteten auf dem schimmernden Silber und wollten
sich nicht entfernen lassen. Als der Junge die Kanalisation
verließ, die Trophäe in den Händen, lag ein goldenes Leuchten
auf dem Laub der Bäume.
So endete der Sommer.
So kam der Mond zu seinen Flecken.
So gab der blassblonde Junge den Anhänger im Tausch gegen
eine Schneekugel.
Und erwachte und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
TEIL ZWEI
MESSER UND NARBEN
GABLES EINSAME SCHRITTE
NEBEL LIEGT AUF DEN HÜGELN, dicht und schwer wie
der blaugraue Rauch, der bald von den herbstlichen
Kartoffelfeuern auf den Feldern aufsteigen wird. Die Luft ist
kalt und schmeckt nach verwelktem Laub. Sprühregen weht
vom Himmel, in transparenten, breiten Schleiern. Nicht mehr
lange, dann wird der Sportunterricht für den Rest des
Schuljahres in der Halle abgehalten werden.
Nicholas lässt sich Zeit. Er lauft mehrere Extrarunden über die
Aschenbahn, den Blick wie immer konzentriert nach vorn
gerichtet, der Takt seines Laufens unbeirrt, wie im Gleichklang
mit der Welt. Unter dem Regen hat die Aschenbahn ihre
rostrote Färbung verloren, der sandige Belag ist verklumpt zu
einem dunklen Braun. Nicholas läuft so lange, bis die lauten,
unmelodischen Unterhaltungen anderer Schüler in den nahen
Umkleidekabinen verstummt sind, bis der heiße Wasserdampf
in den Duschen sich verflüchtigt hat, bis sich niemand mehr auf
dem Sportplatz aufhält, nur er und ich.
Irgendwann läuft er langsam aus, bleibt stehen und stemmt die
Hände in die Seiten. Er beugt den Oberkörper leicht vornüber.
Ich sehe, wie sein Brustkorb sich hebt und senkt, sehe
wirbelnden kleine, feuchte Atemwolken. Der Läufer spuckt auf
den Boden, seine Füße scharren über den nassen Sand. Erst
dann hebt er den Kopf, blickt zur Tribüne, in meine Richtung,
und setzt sich in Bewegung.
»Schön, dass du gewartet
Weitere Kostenlose Bücher