Andreas Steinhofel
hast, Phil.«
Ich zucke die Achseln. »Macht Spaß, dir zuzusehen.«
Er steht direkt vor mir. Er wischt sich mit dem Handrücken
über die Stirn, auf der Schweiß und Regen nicht zu
unterscheiden sind, und sieht mich dabei forschend an, fast so,
als wittere er eine Lüge. Dann winkt er ab. »Kommst du mit?«
Ohne auf meine Antwort zu warten, dreht er sich um und geht
voraus. Flecken leuchten auf seinem Shirt, wo dunkle Nässe die
Linie seines Rückgrats nachzeichnet. Nacheinander betreten wir
die Umkleidekabine, deren Boden übersät ist mit den
Abdrücken feuchter Füße. Ein vergessener Turnbeutel baumelt
an einem Kleiderhaken. Die Luft trägt die verschiedensten
Gerüche: Schweiß, Deodorant, Seife. Ich will etwas sagen,
irgendetwas, aber mein Mund ist wie zugenäht. Stattdessen sehe
ich Nicholas stumm dabei zu, wie er sich auszieht. Seine
Bewegungen sind fließend, aus einem GUSS, wie die eines
Tänzers. Er schlüpft aus der Unterhose, wendet sich mir zu,
steht nackt vor mir. Die dunklen Augen mustern mich von oben
bis unten. Sein Körper leuchtet. Ich habe Mühe, seinem Blick
standzuhalten, noch größere Mühe, nicht an ihm herabzusehen.
Er macht einen Schritt auf mich zu, unbefangen in seiner
Nacktheit, und es ist, als würden Luft und Licht sich verdichten.
»Hast du schon geduscht?«
Ich nicke.
Er macht eine kleine, fremde Handbewegung; für einen
Augenblick glaube ich, er wolle mir einen Arm um die Schulter
legen, mich an sich heranziehen. Ich beginne zu zittern.
»Phil?«
»Ja?«
Es ist wie bluten. Der Regen ist stärker geworden, er klopft
mit tausend Nadelspitzen auf das Dach.
»Komm. Zieh dich aus.«
ICH WAR VIERZEHN, als ich Gable endlich begleiten
durfte. Glass schenkte mir ihre Einwilligung zum Geburtstag
und machte mehr Aufheben um die Sache, als meiner Meinung
nach angemessen war. Überhaupt empfand ich ihre Zustimmung
als unpassendes Geschenk. Ich hatte mir neue Hosen und vor
allem Bücher gewünscht, eigene Bücher, die ich nicht unter den
Adleraugen Frau Hebelers ausleihen musste.
Es war weder die Südsee, noch waren es der Atlantik oder der
Indische Ozean, wohin Gable mich mitnahm. Es war keines der
großen Meere, von denen ich immer geträumt hatte, sondern das
östliche Mittelmeer. Meine anfängliche Enttäuschung über das
wenig exotische Ziel wich schon nach einem Tag auf der nicht
ganz so hohen See heller Begeisterung. Zwei sonnige Wochen
lang kreuzten wir an der europäischen Küste entlang, dann
erreichten wir die Ägäis. Gable hatte sich einen mittelgroßen
Jollenkreuzer von einem Freund ausgeliehen, der bei Marseille
lebte. In Marseille war ich auch an Bord gegangen, nach einer
Bahnfahrt, die scheinbar nicht enden wollte und von der ich mir
auch wünschte, dass sie nicht endete: Die meiste Zeit hatte ich
aus dem Fenster gestarrt und dabei zugesehen, wie die Welt
immer größer wurde, der Himmel immer höher. Es war, als
würde das Universum vor meinen Augen tief Luft holen. Vor
Aufregung hatte ich kaum etwas gegessen oder getrunken.
Gable empfing mich mit einem Lachen und einer herzlichen
Umarmung. Mit der Geste eines Königs, der an seinen Hof
bittet, ließ er mich das Schiff betreten. Es erstaunte mich, wie
viele Leute er nicht nur in Frankreich, sondern auch entlang der
italienischen Küste kannte und zu Freunden hatte. Gable war
Schiffsjunge gewesen, Leichtmatrose, Matrose, Maat,
schließlich Bootsmann. So war er herumgekommen auf dem
Globus, und wenn er davon erzählte, dann war es, als spräche er
von längst vergangenen Jahrhunderten.
»Ich ließ mich von jedem anheuern, der mich haben wollte.
Ich wollte etwas sehen von der Welt. Vor allem aber wollte ich
Freiheit, und Freiheit findest du nur auf dem Meer, Phil! Vier
feste Wände sind nichts für mich, sie erdrücken mich, nur ein
Sarg kann schlimmer sein. Ich brauche die Weite, den offenen
Blick über das Meer. Nichts auf der Welt kann dir die Illusion
von Grenzenlosigkeit besser vermitteln als der blanke
Horizont.«
Es überraschte mich, dass Gable fast dieselben Worte wählte,
mit denen Stella den weiten Blick auf die Welt beschrieben
hatte, den Visible ihr bot. Von Glass wusste ich, dass Gable und
Stella einander nie kennen gelernt hatten, doch manchmal, wenn
ich eines der in Visible aufgehängten Fotos von meiner Tante
betrachtete, malte ich mir aus, wie gut die beiden miteinander
ausgekommen wären, und überlegte, dass Stella eine bessere
Frau
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