Andreas Steinhofel
älter.
Mein Körper schien nicht mehr mir zu gehören, er war wie
ausgeleert, schwerelos.
»Exa«, flüsterte der Junge auf Griechisch.
Komm.
Ich ergriff die Hand, die er mir entgegenstreckte, sie war
trocken und warm. Er bewegte sich mit so sicheren Schritten
durch die Nacht, dass ich mich nach kurzem Zögern ganz seiner
Führung überließ. Bei jedem Schritt spürte ich Sand durch
meine nackten Zehen rinnen, er war noch warm, vielleicht
kühlte er nie ganz aus, sondern blieb erhitzt, bis der Sommer
vorbei war, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass der
Sommer hier jemals endete. Ein fremder Geruch schwebte in
der Luft, zäh und süß, wie von kochendem Honig, und hinter
uns blieb das Meer zurück, bis das Schlagen der kleinen Wellen
an den Strand nicht mehr war als ein Murmeln, ein Traumecho,
ein sich auf ewig wiederholendes Versprechen.
Als der Junge unvermittelt stehen blieb und mich losließ,
schwappte Panik über mir zusammen, Angst vor der
Dunkelheit. Dann spürte ich seine Hände auf meinen Schultern,
seine Lippen an meinem Hals. Ich zuckte zusammen, als hätte
ich einen elektrischen Schlag erhalten. Er küsste mich und
flüsterte, flüsterte und küsste. Ich legte meinen Kopf in den
Nacken. Er zog ihn zurück, als wolle er mir in die Augen sehen,
und so standen wir eine Weile nur da, dicht an dicht, Mund an
Mund. Seine Zunge war fest und rau, wie die einer Katze, er
schmeckte entfernt nach Anis. Dann glitt er an mir herab, seine
Hände rutschten an der Rückseite meiner Beine nach unten und
kamen in meinen Kniekehlen zur Ruhe, meine Hände fielen auf
seine Schultern, seine Haut war so kühl, als wäre sie nie von der
Sonne berührt worden. Ich griff in seine Haare. Ich löste mich
auf, ich wurde zu Feuer und Wasser, Sand, Asche.
Später verschwand er lautlos in die Dunkelheit. Eben war er
noch da gewesen, jetzt war er fort, ohne sich zu verabschieden,
wie einer der vielen Männer, die Glass mit nach Visible brachte.
Ich legte mich auf den Rücken und starrte in den
Nachthimmel. Normalerweise war er klar und mit Sternen
übersät, die ich zu Hause nie zu Gesicht bekam, die Milchstraße
schien hier die Erde zu streifen. Jetzt war über mir nur
Schwärze, und es war, als würde das fehlende Sternenlicht die
harzige Luft noch schwerer machen. Ich fühlte mich wie ein
Gefäß, nur wusste ich nicht, ob dieses Gefäß geleert oder gefüllt
worden war. Aus weiter Ferne erklang dumpfes Donnergrollen.
Ich fand den Weg zurück zum Schiff, indem ich dem
Geräusch der Brandung, dann der Wasserlinie folgte. Erst ging
ich langsam, dann immer schneller; schließlich bohrte sich jeder
meiner Schritte wütend in den Sand. Das kleine Schiff lag
unbewegt auf dem Meer, wie eine dunkle Nussschale, eine
einzelne Bordlampe glühte. Gable erwartete mich bereits. Ich
turnte über ein paar Steine, ergriff die Hand, die er mir über die
Reling entgegenstreckte, und ließ mich von ihm an Deck
ziehen.
»Warum hast du mir nicht mehr Zeit gelassen?«, herrschte ich
ihn an, kaum dass ich vor ihm stand. »Warum nur zwei
Stunden?«
»Zwei Stunden, zwei Tage, zwei Jahre… es ist nie genug«,
erwiderte Gable, und dann brachte er mich vollends zum
Verstummen, indem er nach oben zeigte, in die Takelage des
Schiffes. »Schau.«
Über den Spitzen der Masten zuckte und tanzte ein
unirdisches, schwaches Flackern, nicht von kaltem Blau, wie
man vielleicht erwartet hätte, sondern rosafarben. Es war keine
Täuschung, keine Spiegelung der dazu viel zu dunklen Luft.
»Was ist das?«, flüsterte ich.
»Elmsfeuer. Ein Gewitter zieht auf.«
Einzelne Flammen erloschen unter statischem Knacken und
Knistern, sie wurden sofort durch neue ersetzt. Die Luft erhob
sich zu einem drohenden Flüstern, plötzlich erfüllt von einem
kaum wahrnehmbaren Geruch nach Ozon.
Etwas in meinem Inneren stieg auf wie eine Welle. Ich begann
unkontrolliert zu schluchzen, und Gable nahm mich in die
Arme. Er hielt mich lange, während ich mein Gesicht an seine
Brust presste, er wiegte mich und murmelte dabei Worte, die ich
nicht verstand.
»Gable«, sagte ich endlich, »wo ist Alexa?«
»Ich weiß es nicht.«
»Vermisst du sie?«
»Jeden Tag, Phil. Jeden Tag und jede Nacht.«
Ich löste mich von ihm, wischte mir mit dem Handrücken
über die Nase und schniefte. »Warum habt ihr euch getrennt?«
Gable zuckte die Achseln. »Es war mein Fehler, oder? Sie war
so ruhig und sesshaft, ich konnte das nicht ertragen.
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