Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
Einwänden kommen solle. Nie käme ihr ein Satz in den Sinn, wie ihn SPD -Chef Sigmar Gabriel 2010 im »Wahlkampf« um den Nachfolger für den zurückgetretenen Bundespräsidenten Horst Köhler sagte: »Christian Wulff bringt eine politische Laufbahn mit, Joachim Gauck ein Leben.«
Das Professionelle in der Politik zu ehren, ist zugleich der springende Punkt für Angela Merkels Bild von den Deutschen. An einem Abend nach einem langen, aufreibenden EU-Gipfel in Brüssel brach das einmal aus ihr heraus und mündete in den Satz: »Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen.« Banaler geht’s nicht, aber der Satz hat große Kraft, und dahinter liegt ein ganzes Weltbild. Die Zuhörer, allesamt Journalisten und Beamte, trauten ihren Ohren nicht: Die Kanzlerin lieferte eine Stehgreif-Ehrenrettung ihres eigenen Berufsstandes, eine Hymne auf die Schönheit des politischen Geschäfts an sich. Und dazu eine kurze Charakterstudie der politisch schlecht informierten, desinteressierten Deutschen, die größte Skepsis vor allzu viel Volksbefragung und Referenden dringend nahelegte – allein schon, weil die Menschen völlig überfordert sind, die Globalisierung zu verstehen.
Ins Gästebuch einer Gedenkveranstaltung zu Nazi-Tyrannei und Judenverfolgung hatte sie schon früher einmal geschrieben: »Weil man nie sicher sein kann, dass die Menschen vernünftiger werden, müssen die politischen Strukturen der Bundesrepublik so sein, wie sie sind.« Kein Wunder, dass Angela Merkel mit den »Wut-Bürgern« vor dem Stuttgarter Bahnhofs-Neubau S-21 nicht viel anfangen konnte und froh war, dass sie der schweigenden Mehrheit am Ende unterlagen. Kein Wunder auch, dass sie mit den Piraten bei aller Neugier bis heute wenig anzufangen weiß. Deren Wähler und Personal passen zwar in ihr Bild von den polit-launischen, immer sprunghafteren Deutschen, die Meinungsumfragen inzwischen schneller und heftiger oszillieren lassen als jemals zuvor. Aber zugleich war sie von Anfang an unsicher, ob die Piraten sich festsetzen würden oder ihnen binnen eines Jahres die Luft ausgehen würde. Sie neigte zu Letzterem, weil sie nach wie vor denkt, die Deutschen interessierten sich immer weniger für Politik, Parteipolitik zumal. Am Ende, im Frühjahr 2013, scheint sie richtig zu liegen, scheint ihr Bild von den Deutschen in diesem Punkt zu stimmen: Die Anti-Parteien-Partei hat ihren Reiz verloren, verspielt und steckt nach zahllosen internen Quälereien unter fünf Prozent in den Umfragen für die Bundestagswahl fest und hat es in den Landtag von Niedersachsen nicht geschafft. Die erste Niederlage nach vier Siegen bei Landtagswahlen und die Beobachter sind sich einig: Die Piraten könnten so schnell wieder von der Bildfläche verschwinden wie sie gekommen waren. Deren Wähler wollen nicht nur einen anderen Inhalt, sie wollen einen anderen Modus als den der repräsentativen Demokratie, um die politischen Vorhaben zu verhandeln und zu beschließen. Sie wollen die Details der Politik nicht länger allein den Profis, den Berufspolitikern, überlassen, denn denen misstrauen sie wie jede populistische Partei. Die Piraten stellen also eine neue Plattform gegen »die da in Berlin«. Jeder kann mitmachen, und das heißt: Mal kommt »wisdom of the crowds« heraus, die Weisheit der vielen; und manchmal ist es die Diktatur der Dilettanten, die Dilettantur. Auf diese Weise ein Industrieland mit 80 Millionen Einwohnern regieren zu wollen, das hält der Profi Angela Merkel für krank. Von neu erfundenen Systemen im Realitätscheck hat sie nach der DDR genug.
Kurzum: Bei der flammenden Verteidigung ihrer Art von Politik, die sie für die einzig taugliche hält, war die Kanzlerin an diesem Abend in Brüssel denkbar ehrlich. Vielleicht lag es an der fortgeschrittenen Stunde und zwei Glas Wein. Vielleicht lag es auch am Ort, an dem für 500 Millionen Bürger der Europäischen Union so viel wichtige Politik mit so wenig öffentlicher Begleitung gemacht wird. Wo die Politiker vom Volk (und den Medien) weniger »gestört« werden als daheim und das für einen handfesten Vorteil halten, vom dem auch die Bürger am Ende etwas Positives hätten. Und tatsächlich kann man ja ins Grübeln kommen, ganz wie der österreichische Autor Robert Menasse, der 2012 nach einem längeren Brüssel-Aufenthalt seinen »Europäischen Landboten« veröffentlichte und darin schrieb: »Kann es sein, dass die Demokratie, so wie wir sie nach 1945 (…)
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