Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Wie im Traum kommt meine Mutter zu uns herüber. Sie knirscht über das zerbrochene Glas und weicht den zappelnden Monstern aus, als würde sie so etwas regel mäßig sehen. Vielleicht tut sie das auch. Vielleicht ist das in ihrer Welt normal. Sie weicht ihnen aus, als sie sie sieht, doch sie ist nicht überrascht. Ihre Augen sind klar, der Ausdruck auf ihrem Gesicht wachsam.
»Baby?« Obwohl Paige über und über mit frischem und geronnenem Blut besudelt ist, hastet meine Mutter zu ihr hinüber und schließt sie ohne zu zögern in die Arme.
Meine Mutter weint. Heftige und angstvolle Schluchzer entringen sich ihrer Kehle. Zum ersten Mal wird mir klar, dass sie wegen Paige mindestens so besorgt und mitgenommen war wie ich. Dass es kein Zufall war, dass sie hier gelandet ist, am selben gefährlichen Ort, den auch ich aufgesucht habe, um Paige zu finden. Auch wenn sich ihre Liebe oft auf eine Art zeigt, die ein gesunder Mensch nicht verstehen kann oder die er vielleicht sogar als Misshandlung deklarieren würde – dies ändert nichts daran, dass wir ihr wichtig sind.
Ich schlucke die Tränen hinunter, die mich zu ersticken drohen, und sehe zu, wie meine Mutter Paige mit Zärtlichkeiten überschüttet.
Jetzt schaut Mom sie sich genauer an. Das Blut. Die Nähte. Die Blutergüsse. Sie kommentiert nichts davon, gibt jedoch erschrockene und tröstende Laute von sich, während sie Paige übers Haar und über die Haut streicht.
Dann sieht sie mich an. Eine harte Anklage liegt in ihren Augen, offenbar gibt sie mir die Schuld an dem, was mit Paige passiert ist. Wie kann sie das denken? Ich will ihr versichern, dass nicht ich ihr das angetan habe, doch ich sage nichts. Ich kann nicht. Ich kann den Blick meiner Mutter nur voller Reue und Schuldgefühl erwidern. Ich sehe sie an, so wie sie mich vor all den Jahren angesehen hat, als Dad und ich Paige verkrüppelt und mit gebroche nen Knochen vorgefunden haben. Ich habe vielleicht nicht das Messer gegen Paige erhoben, doch diese schreckliche Sache ist passiert, während ich auf sie aufpassen sollte.
Zum ersten Mal frage ich mich, ob wirklich meine Mutter für Paiges gebrochenen Rücken verantwortlich war.
»Wir müssen hier raus«, sagt Mom, die ihren Arm schützend um Paige gelegt hat. Ihre Stimme ist klar und entschieden.
Überrascht blicke ich zu ihr auf. Noch bevor ich mich bremsen kann, blüht Hoffnung in mir auf. Ihre Stimme ist so voller Autorität und Selbstvertrauen. Sie klingt wie eine Mutter, die bereit und felsenfest entschlossen ist, ihre Töchter in Sicherheit zu bringen.
Sie klingt zurechnungsfähig.
Dann sagt sie: »Sie sind hinter uns her.«
Die Hoffnung in mir schrumpft in sich zusammen und stirbt. Sie hinterlässt nichts als einen harten Knoten, dort, wo mein Herz sein sollte. Ich muss gar nicht fragen, wer »sie« sind. Meiner Mutter zufolge sind »sie« schon seit ich denken kann hinter uns her. Ihre beschützende Haltung ist kein Schritt in Richtung Verantwortung für ihre Mädchen.
Stumm nicke ich und nehme die Last der Verantwortung für unsere Familie wieder auf meine Schultern.
41
Meine Mutter führt Paige zum Ausgang, als ein lauter Krach hinter den Flügeltüren die beiden wie angewurzelt stehen bleiben lässt. Er dringt aus dem Raum, aus dem auch die Engel gekommen sind. Ich halte im Laufen inne und frage mich, ob es besser wäre, nachzusehen.
Eigentlich fällt mir kein guter Grund ein, weshalb ich meine Zeit verschwenden und durch die Türen spähen sollte, doch irgendetwas beunruhigt mich. Es zerrt an meinen Gehirnwindungen wie eine Klinge an einem Gewebe, das sie auftrennen will, damit sichtbar wird, was sich dahinter verbirgt. Es ist so viel passiert, dass mir keine Zeit blieb, meine Gedanken nachzuverfolgen. Da war etwas, das wichtig sein könnte, etwas …
Das Blut.
Die Engel waren voller Blut. Es war auf ihren behandschuhten Händen und ihren weißen Kitteln.
Und Laylah. Sie sollte mit Raffe im OP -Saal sein.
Noch ein schepperndes Geräusch dringt durch die Türen, Metall auf Metall, wie ein Rollwagen, der umkippt und in einen anderen kracht.
Ich renne, bevor ich es überhaupt registriere.
Als ich den Flügeltüren näher komme, donnert ein Körper durch sie hindurch. Ich habe nur eine Sekunde, um zu erkennen, dass es Raffe ist, der da durch die Luft saust.
Hinter ihm walzt ein riesiger Engel durch die Tür.
Etwas an der Art, wie er sich bewegt, kommt mir bekannt vor. Sein Gesicht mag einst gut aussehend gewesen sein, doch
Weitere Kostenlose Bücher