Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
hat. Würde nicht Blut von ihrem Gesicht tropfen und über ihren Körper rinnen, ich würde ihren Ausdruck für so sanft und unschuldig halten, wie er immer gewesen ist.
»Ryn-Ryn.« Ihrer Stimme ist anzuhören, dass sie den Tränen nahe ist. Es ist die Stimme eines verängstigten kleinen Mädchens, das sich sicher ist, seine große Schwester wird die Monster unter seinem Bett verjagen. Seit sie ein Kleinkind war, hat Paige mich nicht mehr Ryn-Ryn genannt.
Ich blicke auf die wütenden Stiche, die im Zickzack über ihr Gesicht und den Körper laufen. Ich starre auf die Blutergüsse – rot und blau, überall auf ihrer geschundenen Haut.
Es ist nicht ihre Schuld. Was auch immer sie gerade getan hat, sie ist das Opfer, nicht das Monster.
Wo habe ich das schon einmal gehört?
Der Gedanke beschwört das Bild der am Baum hängenden Mädchen herauf. Hat das irre Paar nicht etwas ganz Ähnliches gesagt? Ergibt ihre verrückte Unterhaltung auf einmal einen Sinn für mich?
Ein weiterer Gedanke schleicht sich wie giftiges Gas in meinen Kopf. Wenn Paige nur Menschenfleisch und nichts sonst essen könnte, was würde ich dann tun? Würde ich so weit gehen und sie mit Menschen ködern, weil ich glaube, ihr damit helfen zu können?
Das ist zu entsetzlich, als dass ich überhaupt darüber nachdenken könnte.
Und vollkommen irrelevant.
Denn es gibt keinen Grund zu glauben, dass Paige überhaupt etwas fressen muss. Paige ist kein kleiner Dämon. Sie ist ein kleines Mädchen. Eine Vegetarierin. Die geborene Menschenfreundin. Ein angehender Dalai Lama, Himmelherrgott noch mal. Sie hat den Engel nur angegriffen, um mir zu helfen. Das ist alles.
Abgesehen davon hat sie ihn ja gar nicht aufgefressen. Sie hat nur … ein bisschen an ihm genagt.
Die Fleischbrocken am Boden zittern. In meinem Magen rumort es.
Paige betrachtet mich aus ihren warmen braunen Augen, die von rehhaften Wimpern eingerahmt werden. Darauf konzentriere ich mich und ignoriere absichtlich ihr blutiges Kinn und die grausamen Stiche, die von ihren Lippen zu den Ohren verlaufen.
Hinter ihr beginnt der Engel ernsthaft zu krampfen. Seine Augen rollen in den Höhlen hin und her, sodass nur noch das Weiße zu sehen ist. Sein Kopf schlägt immer wieder auf den Betonboden. Er hat einen Anfall, und ich frage mich, ob er ohne die ganzen Fleischstücke und ohne das Blut, das sich in einer Lache auf dem Boden ausgebreitet hat, überleben kann. Aber wahrscheinlich repariert sich sein Körper sogar in dem Zustand noch fieberhaft. Gibt es eine Chance, dass sich dieses Monster wieder erholt?
Ich drücke mich hoch und versuche, die schleimige Flüssigkeit unter meinen Händen zu ignorieren. Mein Hals brennt, ich fühle mich steif und als wäre ich voller blauer Flecke.
»Ryn-Ryn.« Noch immer hat Paige ihre Arme in einer verlorenen Geste ausgebreitet, doch ich kann mich nicht überwinden, sie zu umarmen. Stattdessen stürze ich mich auf das Engelsschwert und ergreife es. Schon etwas müheloser gehe ich zu dem Engel zurück, wobei ich mich langsam wieder an meinen Körper gewöhne.
Ich blicke in seine leeren Augen, auf den blutenden Mund. Sein zitternder Kopf schlägt noch immer in einer ständigen Klopfbewegung gegen den Boden.
Dann stoße ich ihm das Schwert ins Herz.
Noch nie habe ich jemanden getötet. Doch jemanden zu töten, jagt mir keine Angst ein. Was mir wirklich Angst macht, ist, dass es so einfach ist.
Das Schwert fährt durch ihn hindurch, als wäre er nichts als ein verfaultes Stück Obst. Ich verspüre keinerlei Mitleid angesichts einer Seele oder einer Lebensessenz, die einen Körper verlässt. Kein Schuldgefühl, keinen Schock und keinen Kummer wegen des Lebens, das ich einst hatte oder wegen dem, was aus mir geworden ist. Da ist nur das zitternde Fleisch, das ich zum Verstummen gebracht habe, und das langsame Aushauchen eines letzten Atemzugs.
»Großer Gott.«
Überrascht über die hinzugekommene Stimme blicke ich auf. Noch ein Engel in einem Laborkittel. Ich erhasche einen kurzen Blick auf das frische Blut, das darauf prangt, und auf Hände in Handschuhen, als zwei weitere Engel hinter ihm durch die Tür kommen. Auch sie haben Blut auf ihren Kitteln und Handschuhen.
Fast hätte ich Laylah nicht erkannt. Sie hat ihr goldenes Haar zu einem strengen Knoten gebunden. Was tut sie hier? Sollte sie nicht gerade Raffe operieren?
Sie alle starren mich an. Ich frage mich, weshalb sie mich und nicht meine blutbespritzte Schwester so angaffen, doch dann
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