Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
jeden Moment auf uns stürzen könnte. Irgendwo in der Ferne hallt das Knattern der Maschinengewehre in den Straßen wider.
Wir schlängeln uns weiter zwischen den verlassenen Autos hindurch. Die Menschen in unserem Truck unterhalten sich leise und aufgeregt. Sie sind so aufgekratzt, das sie sich anhören, als könnten sie es mit einer ganzen Engelslegion allein aufnehmen.
Noch immer bleiben sie, soweit es geht, auf ihrer Seite des Trucks. Es ist gut, dass sie so aufgeregt und glücklich sind. Andernfalls, fürchte ich, würden sie uns einfach auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Während ihres Geplappers schauen sie immer wieder zu uns herüber. Schwer zu sagen, ob meine Mutter ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, die in ihrer Gebetstrance in fremden Zungen spricht, oder meine Schwester mit ihren verstörenden Nähten und dem entrückten Blick oder die Leiche, also ich.
Der Schmerz ebbt ab. Jetzt fühlt es sich eher an, als sei ich von einem ganz normalen Auto angefahren worden, das ein Stoppschild nicht beachtet hat, statt auf dem Freeway von einem Sattelzug mit achtzehn Rädern. Allmählich bekomme ich meine Augen wieder unter Kontrolle. Ich schätze, ein paar meiner anderen Muskeln tauen ebenfalls langsam wieder auf, doch meine Augen lassen sich am leichtesten bewegen. Das heißt: Wenn man den Bruchteil eines Zentimeters als »Bewegung« bezeichnen will. Doch es reicht, um mir zu signalisieren, dass die Wirkung des Gifts nachlässt und ich wahrscheinlich bald wieder okay sein werde.
Die Straßen sind inzwischen einsam und menschenleer. Wir befinden uns außerhalb des Horst-Distrikts und der zerstörten Gegend. Kilometerlang fliegen ausgebrannte Autowracks und zerrüttete Gebäude an uns vorbei. Der Wind peitscht mir das Haar ins Gesicht, während wir durch das verkohlte und verwüstete Skelett unserer Welt fahren.
Gelegentlich halten wir an und verschmelzen mit den anderen, leeren Autos. Irgendwann bedeutet Obi uns, still zu sein. Wir halten den Atem an und hoffen, nichts und niemand wird uns finden. Ich nehme an, Engel sind am Himmel gesehen worden, und wir tarnen uns.
Gerade, als ich denke, dass alles vorbei ist, ruft jemand im hinteren Teil des Wagens: »Achtung!«
Er deutet nach oben. Sämtliche Blicke folgen ihm.
Ein einsamer Engel kreist über uns in dem verwundeten Himmel.
Nein, kein Engel.
Das gebogene Metall an den Seiten seiner Flügel reflektiert das Licht. Sie sehen nicht aus wie die Schwingen eines Vogels, sie haben eher die Form riesiger Fledermausflügel.
Vor lauter Verlangen, nach ihm zu rufen, beschleunigt sich mein Herzschlag. Ist das wirklich möglich?
Er kreist über uns und kommt mit jeder Spirale näher zu uns herunter. Die Spiralen sind groß und langsam, fast schon widerstrebend.
Für mich ist das keine Bedrohung, es sieht eher so aus, als wollte er einfach einen Blick auf unseren Truck werfen. Doch für die anderen wirkt es – besonders in ihrem adrenalinbefeuerten Rausch – wie ein feindlicher Angriff.
Sie greifen nach ihren Gewehren und richten sie in den Himmel.
Ich will sie anschreien, dass sie aufhören sollen. Ich will sagen, dass die Engel nicht alle darauf aus sind, uns zu schnappen. Ich will mich in die Menschengruppe hinein werfen, damit sie ihr Ziel verfehlen. Doch alles, was ich tun kann, ist zuzusehen, wie sie ihre Waffen ausrichten und in die Luft schießen.
Die trägen Kreise werden zu Ausweichmanövern. Er ist nah genug, dass ich sein dunkles Haar sehen kann und bemerke, dass er sich – jetzt, da er nicht mehr einfach nur durch die Luft gleitet – recht unsicher bewegt. Als würde er gerade erst lernen, wie man mit diesen Schwingen fliegt.
Es ist Raffe. Er lebt.
Und er fliegt!
Ich will auf und ab springen, ihm zuwinken und rufen. Ich will ihn anfeuern. Mein Herz steigt mit ihm in die Lüfte, auch wenn es von Angst ergriffen ist, dass er vom Himmel fallen könnte.
Die Soldaten haben nicht genug Übung mit den Gewehren, um ein sich bewegendes Ziel aus dieser Entfernung zu treffen. Unversehrt entfernt Raffe sich wieder.
Als Antwort auf meine innere Freude zucken meine Gesichtsmuskeln ein kleines bisschen.
47
Es dauert noch eine Stunde, bis ich wieder komplett auftaue. Die ganze Zeit über ballt meine Mutter die Fäuste und betet in ihren kehligen Lauten über meinem Körper. Es sind beeindruckende Verdrehungen von Worten, die zweifellos eine recht verstörende Wirkung auf ihre Zuhörer haben, doch sie singt sie in einem Rhythmus, der einen gleichzeitig
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