Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Dunkle Flecken sprießen auf seinen Wangen. Mir wird bang, als ich merke, dass die Welt um mich herum verschwimmt.
Immer mehr verschwimmt.
Die Ränder meines Wahrnehmungsfelds versinken in Dunkelheit.
39
Irgendetwas kracht auf den Engel. Ich erhasche einen kurzen Blick auf Haare und Zähne und höre ein animalisches Knurren. Etwas Warmes, Nasses klatscht auf meine weiße Bluse.
Der Druck auf meinen Hals ist plötzlich verschwunden. Ebenso das Gewicht des Engels.
Ich nehme einen tiefen, brennenden Atemzug, rolle mich zu einem Knäuel zusammen und versuche, nicht zu viel zu husten, als die wunderbar kühle Luft in meine Lungen strömt.
Auf meiner Bluse ist Blut.
Ich registriere wildes Ächzen und Knurren um mich herum, dazu ein würgendes Geräusch.
Der Zulieferer übergibt sich hinter den Leichenschubladen. Trotzdem schießen seine Augen dabei immer wieder zu einer Stelle hinter mir. Sie sind so weit aufgerissen, dass sie eher weiß als braun aussehen. Er starrt auf die Stelle, von der die Geräusche kommen. Die Quelle des Blutrauschs durchtränkt meine Kleider.
Obwohl ich es muss, fühle ich ein seltsames Widerstreben, mich umzudrehen und nachzusehen.
Als ich es schließlich tue, habe ich Schwierigkeiten, zu begreifen, was sich da vor meinen Augen abspielt. Ich weiß nicht, über welchen Anblick ich erschrockener sein muss, mein armer Verstand flattert zwischen dem einen und dem anderen hin und her.
Der Laborkittel des Engels ist blutdurchtränkt. Um ihn herum liegen zitternde Fleischbrocken, die aussehen wie eine auseinandergerissene Leber, die jemand auf den Boden geworfen hat.
Ein Stück Fleisch wurde aus seiner Wange herausgerissen.
Er zittert so stark, als befinde er sich in den letzten Ausläufern eines besonders schlimmen Albtraums. Vielleicht tut er das auch. Und ich vielleicht ebenfalls.
Paige kauert über ihm. Ihre kleinen Hände halten seinen Kittel fest umklammert, um seinen bebenden Körper besser fassen zu können. Ihr Haar ist voller Blut, und es tropft an ihrem Gesicht herunter.
Ihr Mund öffnet sich und entblößt eine Reihe glänzender Zähne. Zuerst denke ich, dass ihr jemand eine lange Zahnspange auf die Zähne geschweißt hat. Doch es ist keine Zahnspange.
Es sind Rasierklingen.
Sie beißt den Engel in den Hals und zerrt daran, wie es ein Hund mit seinem Knochen machen würde. Dann weicht sie von dem blutüberströmten, zerfetzten Fleisch zurück und spuckt einen blutigen Brocken aus. Mit einem nassen Geräusch landet er auf dem Boden neben den anderen Stücken.
Sie spuckt und würgt. Etwas stößt sie ab, ob es allerdings ihr eigenes Tun oder der Geschmack des Fleisches ist, lässt sich schwer sagen. Eine unerwünschte Erinnerung an die kleinen Dämonen steigt in mir auf, an die Art, wie sie ausgespuckt haben, nachdem sie Raffe gebissen hatten.
Sie waren nicht dazu ausersehen, Engelsfleisch zu fressen . Der Gedanke schlüpft durch die Ritzen meines Verstands. Sofort schiebe ich ihn wieder zurück.
Der Zulieferer würgt ein weiteres Mal. Auch mir dreht sich der Magen um. Am liebsten würde ich es ihm gleichtun. In animalischer Wildheit öffnet Paige erneut den Mund, bereit, wieder in das zitternde Fleisch abzutauchen.
»Paige!« Meine Stimme ist dünn, voller Panik, und hebt sich am Ende, als wollte ich eine Frage stellen.
Das Mädchen, das mal meine Schwester war, hält auf halbem Weg inne und sieht mich an.
Ihre Augen sind groß und von einem unschuldigen Hellbraun. Blutstropfen hängen an ihren langen Wimpern. Sie sieht mich an, aufmerksam und fügsam wie immer. Kein Stolz liegt in ihrem Ausdruck, keine Bösartigkeit und kein Entsetzen über ihre Tat. Sie blickt zu mir auf, als hätte ich sie beim Namen gerufen, während sie eine Schüssel Müsli isst.
Vom Gewürgtwerden ist mein Hals ganz wund. Ich schlucke gegen ein Husten an, was ganz praktisch ist, denn ich muss auch mein Abendessen wieder hinunterschlucken. Die Kotzgeräusche von dem Zulieferer sind dabei nicht gerade hilfreich.
Plötzlich lässt Paige von dem Engel ab. Mit ihren eigenen Beinen steht sie auf, ohne sich irgendwo abzustützen.
Mit zwei anmutigen, wundersamen Schritten kommt sie auf mich zu. Dann hält sie inne, als würde ihr einfallen, dass sie ja ein Krüppel ist.
Ich wage nicht, zu atmen. Ich starre sie an und widerstehe dem Drang, zu ihr hinzusprinten, um sie aufzufangen, sollte sie fallen.
Sie breitet die Arme in einer »Heb-mich-hoch«-Geste aus, so wie sie es als kleines Kind immer getan
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