Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
Verneigung vor Tante Jeanne, deren schmollend verzogene Lippen nicht zu lächeln geruhten, und schon waren sie auf der großen Steintreppe, wo es so feucht war wie in einer Höhle. Die Schlafräume waren im Winter eisig, dafür aber im Sommer angenehm kühl. Man betrat sie nur, um sich hinzulegen. Das Bett der drei kleinen Mädchen thronte wie ein Monument in der Ecke eines ausgeplünderten Zimmers, dessen gesamtes Mobiliar über die vergangenen Generationen hinweg verkauft worden war. Der im Winter mit Stroh bedeckte Steinfußboden war an vielen Stellen gebrochen. Ins Bett gelangte man über eine dreistufige Trittleiter. Nachdem die drei Töchter des Barons de Sancé de Monteloup ihre Nachtjacken und -hauben angezogen und Gott kniend für seine Wohltaten gedankt hatten, kletterten sie hinauf zu ihrem kuscheligen Federbett und schlüpften unter die löchrigen Decken. Sofort suchte Angélique nach dem Loch im Laken, das zu dem in der Decke passte, steckte ihren rosigen Fuß hindurch und wackelte mit den Zehen, um Madelon zum Lachen zu bringen.
Die Kleine zitterte nach Nounous Geschichten stets schlimmer als ein Hase. Hortense genauso, aber sie verriet es den anderen nicht, denn sie war die Älteste. Nur Angélique genoss diese Angst mit einer schwelgerischen Freude. Das Leben bestand aus Geheimnissen und Entdeckungen. Sie hörten die Mäuse das Holz anknabbern und die Eulen und Fledermäuse mit schrillen Rufen in den Dachstühlen der beiden Türme herumflattern. Sie hörten die Bassets in den Höfen jaulen und ein
Maultier, das von der Weide kam, um sich am Fuß der Mauern den Grind abzuscheuern.
Manchmal hörten sie in Schneenächten auch das Heulen der Wölfe, die aus dem wilden Forst von Monteloup in die bewohnten Gegenden herunterkamen. Und zuweilen drangen ab den ersten Frühlingsnächten die Lieder der Bauern aus dem Dorf herüber, wo sie im Mondschein einen Rigaudon tanzten …
Kapitel 2
M anchmal weinte Pulchérie, wenn sie an Angélique dachte. In ihren Augen verkörperte ihre Nichte nicht nur das Scheitern dessen, was sie für eine traditionelle Erziehung hielt, sondern auch den Niedergang ihrer Familie und ihres Adels, der durch Armut und Elend seine ganze Würde verlor.
Schon im Morgengrauen rannte die Kleine mit wehendem Haar davon, in Hemd, Mieder und einem ausgebleichten Rock kaum besser gekleidet als ein Bauernmädchen, und ihre kleinen Füße, feingliedrig wie die einer Prinzessin, waren hart wie Horn, denn sie warf ihre Schuhe unbekümmert in den nächstbesten Busch, um ungehinderter laufen zu können. Wenn man sie zurückrief, drehte sie einem höchstens flüchtig das runde, von der Sonne golden gebräunte Gesicht zu, in dem zwei blaugrüne Augen von der gleichen Farbe funkelten wie die Angelika, jene Pflanze, die in den feuchten Sümpfen wuchs und ihren Namen trug.
»Sie gehört ins Kloster«, sagte Pulchérie oft.
Aber der schweigsame, sorgengeplagte Baron de Sancé zuckte nur mit den Schultern. Wie hätte er seine zweite Tochter ins Kloster geben sollen, wenn er nicht einmal die Älteste hinschicken konnte, weil er kaum viertausend Livres an jährlichen Einkünften hatte und fünfhundert davon bereits für die Erziehung seiner beiden älteren Söhne bezahlen musste, die bei den Augustinern in Poitiers die Schule besuchten?
Zu den Sümpfen hin hatte Angélique Valentin zum Freund, den Sohn des Müllers.
Auf der Waldseite hingegen war es Nicolas, eines der sieben Kinder eines Landarbeiters, das schon jetzt als Hirte in Diensten von Monsieur de Sancé stand.
Mit Valentin glitt sie in einem flachen Kahn die von Vergissmeinnicht, Minze und Angelika gesäumten Kanäle entlang. Valentin pflückte ganze Büschel dieser herrlich duftenden, hoch und dicht wachsenden Pflanze. Anschließend verkaufte er sie an die Mönche der Abtei von Nieul, die aus der Wurzel und den Blüten einen Kräuterlikör brauten und die Stängel in süße Naschereien verwandelten. Im Gegenzug erhielt er dafür Skapuliere und Rosenkränze, die er den Kindern aus den protestantischen Dörfern an den Kopf warf, woraufhin diese laut schreiend die Flucht ergriffen, als hätte ihnen der Teufel höchstpersönlich ins Gesicht gespuckt. Seinen Vater, den Müller, bekümmerte dieses seltsame Treiben. Er war zwar katholisch, plädierte aber für Toleranz. Und was musste sein Sohn überhaupt mit Angelika-Büscheln handeln, da er doch irgendwann das Amt des Müllers erben würde und sich bloß noch in der behaglichen Mühle
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