Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
lagen der grundherrschaftliche Taubenschlag mit seinem Dach aus runden Ziegeln und ein Meierhof. Die anderen Gehöfte befanden sich jenseits des Schlossgrabens. In der Ferne konnte man den Kirchturm des Dorfs Monteloup erkennen.
Und dann begann der Wald mit seinen Eichen und Kastanien. Falls einem der Sinn danach stand, ihn vollständig zu durchqueren, und man sich nicht vor Wölfen oder Räubern fürchtete, konnte man durch diesen Wald bis in den Norden der Gâtine und des Bocage vendéen gelangen, ja, fast bis an die Loire und nach Anjou, ohne auch nur auf eine Lichtung zu treffen.
Der näher gelegene Wald von Nieul gehörte zum Besitz des Marquis du Plessis. Die Leute von Monteloup schickten ihre Schweineherden hinein, was zu endlosen Querelen mit dem Sieur Molines, dem raffgierigen Verwalter des Marquis,
führte. In diesem Wald lebten auch ein paar Holzschuhmacher und Kohlenbrenner und eine Hexe namens Mélusine. Nie würde Angélique den Tag vergessen, als sie ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie tollte mit ihren kleinen Spielkameraden auf kriegerischen Feldzügen durch den Wald, bei denen zu allen Heldentaten bereite Ritter sich Schwerter aus Binsen und Schilfrohr bastelten. Das war schon lange her. Sie war damals sicher nicht älter als fünf oder sechs Jahre gewesen, war aber bereits behände genug, um Ast für Ast die Bäume hinaufzuklettern.
»Ein Nest, da oben …!«, hatte plötzlich einer ihrer Gefährten gerufen. Doch als sie gerade die Hand danach ausstreckte, erschallte eine gebieterische Stimme: »Hört auf! Hört auf, ihr bösen Kinder! Man darf die Natur nicht zerstören...«
Die Anweisung war im Dialekt ihrer Gegend erfolgt, doch als Angélique die von Licht umflorte Frau am Fuß des Baumes stehen sah, hatte sie im ersten Moment an eine Erscheinung aus dem Jenseits geglaubt – die Weiße Dame vielleicht. Die anderen Kinder, die mit ihr in den Bäumen herumkletterten oder unten auf dem Boden warteten, hatten laut schreiend Reißaus genommen: »Die Hexe...! Die Hexe...!«
Nachdem Angélique ebenfalls von ihrem Baum herabgestiegen war, war sie allein mit der Erscheinung zurückgeblieben. Sie erinnerte sich noch ganz genau. Die Frau hatte sie angelächelt. Sie hatte ihre beiden Hände ergriffen und mit ihrem langen weißen Finger über die Handflächen des kleinen Mädchens gestrichen, als wollte sie ein Symbol darauf zeichnen oder etwas darin lesen.
»Warum tust du das?«, hatte sie schließlich auf Französisch gefragt. »Siehst du nicht, wie ängstlich die armen Eltern da oben sind?« Und sie hatte ihr die beiden Vögel gezeigt, die verzweifelt piepsend um den Baum herumflatterten und auf die sie bis dahin überhaupt nicht geachtet hatte.
Von diesem Tag an hatte Angélique Mélusine gerne begleitet, denn sie verstand, was diese ihr beibrachte. Mit ihrem Namen machte die Hexe aus dem Wald Eindruck, und tatsächlich hatte sie etwas Seltsames an sich. Wenn man sie von Weitem die Lichtungen überqueren sah, hatte es den Anschein, als glitte sie über das Moos, ohne den Boden zu berühren. Manchmal kam sie im Winter an die Türen der Häuser und bat um eine Schale Milch im Austausch gegen ein paar Heilkräuter.
Von ihr lernte Angélique, Blumen und Wurzeln zu sammeln, die sie in einem geheimen Versteck, das nur der alte Guillaume kannte, trocknete, kochte, zerstampfte und in Beutel steckte, um sie aufzubewahren. Pulchérie konnte dann stundenlang nach ihr rufen, ohne dass sie wieder auftauchte.
Alles, was mit Mélusine zu tun hatte, ihre Begegnungen und Entdeckungen, hütete Angélique sorgfältig in einem Winkel ihrer Gedanken und ihres Herzens, wo es nur sie beide gab.
Mélusine, die Hexe.
Ihr Reich war der Kronwald.
Selbst als Marquise der Engel war Angélique mit ihrer Bande nie wirklich über die Grenzen dessen hinausgekommen, was man das Gemeinholz nannte, jenes weitläufige Gebiet, in dem es den Dörflern teilweise gestattet war, Holz für ihren Herd zu sammeln oder die Schweine fressen zu lassen. Weiter ging man nicht. Nur sie und Mélusine. Denn hinter diesem Forst lag der unbekannte Wald mit seinen moosbewachsenen Steinen, seinen trüben, unter langstieligen Wasserpflanzen verborgenen Tümpeln, jener Wald, in dem sich die epischen Erzählungen aus den Almanachen und den kleinen blauen Büchern abspielten.
Nie konnte man sicher sein, dort nicht einem geharnischten Ritter oder zumindest einem vergessenen Feuer speienden Drachen aus Merlins Zeiten zu begegnen. Bislang konnte sich
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