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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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ich könnte wetten, dass der Teller leer war: er hatte gegessen, das Hungergefühl war besiegt. Serge griff nach seinem Glas und trank. In dem Moment erhoben sich der Mann mit dem Bart und seine Tochter vom Tisch. Auf dem Weg zum Ausgang wurden sie bei Serges Tisch kurz etwas langsamer, ich beobachtete, dass der Mann mit dem Bart seine Hand zum Gruß hob, die Tochter lachte ihm zu und Serge hielt zum Gruß sein Glas in die Höhe.
    Bestimmt hatten sie sich nochmals für das Foto bedanken wollen. Serge war tatsächlich durch und durch zuvorkommend gewesen, der Übergang vom Privatmenschen beim Essen zur Rolle einer landesweit bekannten Person war nahtlos gewesen: eine landesweit bekannte Person, die immer sie selbst geblieben war, ganz normal, ein Mensch wie du und ich, jemand, den man allzeit und überall ansprechen konnte, weil er sich nicht für etwas Besseres hielt.
    Wahrscheinlich war ich der Einzige, der die verärgerte Falte zwischen seinen Augenbrauen bemerkt hatte, die in dem Moment aufgetaucht war, als der Mann mit dem Bart ihn angesprochen hatte. »Bitte entschuldigen Sie, aber Ihr … Ihr … dieser Mann hier hat mir versichert, es sei kein Problem, wenn wir …« Die Falte war nur eine Sekunde lang zu erkennen gewesen, danach sahen wir den Serge Lohman, dem jeder seine Stimme geben konnte, den Kandidaten für das Amt des Premierministers, der sich inmitten der normalen Leute wohlfühlte.
    »Natürlich! Natürlich!«, hatte er jovial gerufen, als der Bart ihm den Fotoapparat hingehalten und auf seine Tochter gewiesen hatte. »Und wie heißt du?«, hatte Serge das Mädchen gefragt. Es war kein besonders hübsches Mädchen, nicht die Sorte, von denen mein Bruder das spitzbübische Flackern in den Augen bekam: kein Mädchen, für das er sich echt ins Zeug legen würde, wie zuvor bei der ungeschickten Bedienung, die Scarlett-Johansson-Lookalike. Aber ihr Gesicht war durchaus hübsch, ein intelligentes Gesicht, verbesserte ich mich selbst – eigentlich zu intelligent, um sich gemeinsam mit meinem Bruder ablichten zu lassen. »Naomi«, antwortete sie.
    »Setz dich doch mal neben mich, Naomi«, sagte Serge, undals das Mädchen auf dem freien Stuhl Platz genommen hatte, legte er ihr einen Arm um die Schulter. Der Bart ging ein paar Schritte zurück. »Noch eins zur Sicherheit«, sagte er, als der Apparat ein Mal geblitzt hatte, und er drückte noch einmal.
    Die Szene mit dem Foto hatte für die nötige Aufregung gesorgt. An den Tischen um uns herum hatten die Leute versucht, die Fotoszene zu ignorieren. Aber es war wie bei Serges Eintreffen früher am Abend: Auch wenn man so tut, als sei nichts geschehen, geschieht etwas. Ich weiß nicht, wie ich das noch genauer beschreiben soll. Es ist wie mit einem Unfall, an dem man vorbeigeht, weil man kein Blut sehen will, oder einfacher gesagt: ein überfahrenes Tier am Wegesrand. Man sieht es, man hat es bereits aus der Entfernung registriert, aber man schaut es sich nicht noch genauer an. Man hat keine Lust auf Blut und halb herausquellende Eingeweide. Deshalb blickt man irgendwo anders hin, zum Beispiel in die Luft, zu einem blühenden Strauch, der ein Stück weiter auf der Weide steht – überallhin, nur nicht zum Wegesrand.
    Serge hatte sich wirklich ziemlich jovial verhalten und ihr auch noch den Arm um die Schulter gelegt: Er hatte das Mädchen etwas näher zu sich herangezogen und dann den Kopf schief gehalten. So schief, dass ihre Köpfe sich fast berührten. Das würde sicherlich ein schönes Foto werden, ein schöneres Foto hätte der Mann mit dem Bart sich wahrscheinlich nicht wünschen können, aber ich hatte dennoch den Eindruck, dass sich Serge nicht derart jovial verhalten hätte, wenn nicht dieses Mädchen, sondern Scarlett Johansson (oder eine Scarlett-Johansson-Lookalike) neben ihm gesessen hätte.
    »Allerherzlichsten Dank«, hatte der Mann mit dem Bart gesagt. »Wir werden Sie jetzt nicht weiter belästigen. Sie sind hier ja privat.«
    Das Mädchen (Naomi) hatte gar nicht gesprochen; sie schob den Stuhl zurück und stellte sich neben ihren Vater.
    Aber sie gingen noch nicht weg.
    »Passiert Ihnen das öfter?«, fragte der Bart und beugte sich dabei etwas weiter vor, sodass sein Kopf sich beinahe über unserem Tisch befand – er sprach auch leiser, vertraulicher. »Dass Leute Sie einfach fragen, ob sie mit Ihnen auf ein Foto dürfen?«
    Mein Bruder starrte ihn an, die Falte zwischen seinen Augenbrauen war wieder da. Was wollten sie denn jetzt noch von

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