Angerichtet
unterhält, oder wenn er vom Rednerpult aus den Applaus entgegennimmt, nein, was sage ich da, die minutenlang anhaltenden Ovationen beim letzten Parteikongress (Blumen wurden auf die Bühne geworfen, angeblich spontan, in Wirklichkeit aber ein sorgfältig vorbereiteter Regietrick seines Wahlkampfmanagers), in solchen Momenten strahlt er. Er strahlt nicht nur aus Freude oder Selbstverliebtheit oder weil Politiker, die in der Welt weiterkommen wollen, einfach strahlen müssen, weil es sonst morgen bereits aus ist mit dem Wahlkampf, nein, er strahlt wirklich: Er strahlt etwas aus.
Es hat mich immer wieder verwundert, verwundert und überrascht, wenn ich mitbekam, wie sich diese Wandlung an meinem Bruder vollzog. Mein Bruder, dieser Grobian, dieser tumbe Kerl, der »jetzt essen muss« und seine Tournedos freudlos mit drei Bissen verschlingt, der allzu schnell gelangweilte Döskopp, dessen Blick bei jedem Thema, das gerade einmal nicht ihn betrifft, abschweift, wie also genau dieser Bruderauf dem Podium und im Licht der Scheinwerfer buchstäblich zu strahlen anfängt – kurz, wie aus ihm ein charismatischer Politiker wird.
»Es ist seine Ausstrahlung«, sagte die Moderatorin einer Jugendsendung später in einem Interview mit einem Frauenmagazin. »Wenn man sich in seiner Nähe befindet, passiert etwas.« Zufällig hatte ich die Sendung im Fernsehen gesehen, man konnte sehr genau erkennen, wie Serge das machte. Am Anfang lacht er immer, das hat er sich antrainiert, seine Augen lachen nicht mit, daran kann man erkennen, dass es kein echtes Lachen ist. Aber dennoch: Er lacht, das gefällt den Leuten. Ansonsten hatte er fast während des ganzen Interviews die Hände in den Hosentaschen. Keineswegs gelangweilt oder herablassend, sondern ganz locker, als würde er gerade auf dem Schulhof stehen. (»Schulhof« kam der Sache sehr nahe, denn die Aufnahmen fanden nach einem Vortrag in irgendeiner lauten und schlecht beleuchteten Jugendeinrichtung statt.) Er war zwar zu alt, um als Schüler durchzugehen, aber er wäre bestimmt der netteste Lehrer gewesen: Der Typus Vertrauenslehrer, einer, der auch mal »Scheiße« oder »cool« sagt, ein Lehrer ohne Krawatte, der auf der Klassenfahrt nach Paris auch mal an der Hotelbar ein bisschen beschwipst wird. Ab und zu zog Serge eine Hand aus der Hosentasche, um mit einer Geste einen bestimmten Punkt aus dem Parteiprogramm zu unterstreichen, dann wirkte das gerade so, als würde er mit der Hand durch das Haar der Moderatorin fahren oder ihr sagen, sie habe so schönes Haar.
Doch dieses Verhalten änderte sich, wenn er irgendwo privat war: Wie alle Prominenten besaß auch er diesen Blick: Wenn er irgendwo als Privatmensch einen Raum betritt, sieht er niemals jemanden direkt an, sein Blick schießt hin und her, ohne an einer Person hängen zu bleiben, er schaut zur Decke, zu den Lampe, die dort hängen, zu Tischen, Stühlen, einem Bild an der Wand – am liebsten schaut er aber nirgendwohin.Währenddessen grinst er. Das Grinsen eines Menschen, der genau weiß, dass alle ihn ansehen – oder ihn extra nicht ansehen, was im Prinzip dasselbe ist. Offensichtlich macht ihm das manchmal zu schaffen – das Leben in der Öffentlichkeit und die Privatsituation voneinander zu trennen. Man kann ihn dann förmlich denken sehen, dass es doch gar keine so schlechte Idee ist, auch im Privatleben noch schnell ein paar Wählerstimmen zu angeln; wie heute Abend in dem Restaurant.
Erst sah er zu dem Mann mit dem Bart und danach zu mir, die Falte war verschwunden. Er zwinkerte, griff in die Sakkotasche und holte sein Handy heraus.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und schaute auf das Display, »aber den hier muss ich annehmen.« Er lächelte dem Bart entschuldigend zu, drückte auf eine Taste und hielt das Handy ans Ohr.
Man hatte nichts gehört, kein altmodisches Gepiepse, keinen persönlichen Klingelton mit alberner Melodie – aber es gab unzählige Nebengeräusche, möglicherweise hatten der Bart, Naomi und ich deswegen nichts gehört, oder wer weiß, vielleicht hatte er auch den Vibrationsalarm aktiviert. Wer sollte das wissen. Der Bart ganz bestimmt nicht. Für ihn war nun der Moment gekommen, unverrichteter Dinge abzuziehen. Natürlich konnte er den Anruf anzweifeln, er hatte auch jedes Recht zu denken, er würde zum Narren gehalten – doch erfahrungsgemäß dachten die Leute so etwas nicht. Dadurch bekäme ihre Geschichte einen Knacks, sie waren gemeinsam mit dem zukünftigen Premierminister
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