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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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leeren Teller gerichtet.
    Und erst, nachdem ich mich auf meinen Stuhl niedergelassen hatte, wurde mir klar, dass Babette weinte. Ein lautloses Weinen, mit kaum wahrnehmbaren Zuckungen ihrer Schultern, ein Zittern in ihrem Arm – dem Arm, dessen Hand Claire hielt.
    Ich suchte Blickkontakt mit meiner Frau. Claire zog die Augenbrauen hoch und warf meinem Bruder einen vielsagenden Blick zu. Der erhob genau in diesem Moment den Kopf, sah mich dümmlich an und zuckte mit den Schultern. »Na, du kommst genau im richtigen Moment, Paul«, sagte er. »Vielleicht wärst du besser noch etwas länger auf der Toilette geblieben.«
    Mit einem Ruck zog Babette ihre Hand unter der meiner Frau weg, nahm ihre Serviette vom Schoß und warf sie auf ihren Teller.
    »Du bist wirklich ein totaler Schwachkopf!«, fuhr sie Serge an und schob den Stuhl nach hinten. Im nächsten Augenblick verschwand sie mit langen Schritten zwischen den Tischen hindurch zu den Toiletten – oder zum Ausgang, überlegte ich noch. Doch ich hielt es eher für unwahrscheinlich, dass sie uns hier sitzen ließe. Die Körpersprache, das gebremste Tempo, mit dem sie sich zwischen den Tischen hindurchbewegte, sagte mir, dass sie darauf hoffte, jemand von uns würde ihr folgen.
    Und tatsächlich erhob sich mein Bruder bereits halb, aber Claire legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Lass mich mal, Serge«, sagte sie und stand auf. Auch sie eilte zwischen den Tischen hindurch. Babette war sofort außer Sicht gewesen, weshalb ich nicht mitbekommen hatte, ob sie sich für die Toiletten oder die frische Luft draußen entschieden hatte.
    Mein Bruder und ich sahen uns an. Er versuchte ein vages Lächeln, aber es gelang ihm nicht richtig. »Es ist …«, fing er an. »Sie ist in …« Er sah um sich und beugte sich dann zu mir. »Es ist nicht das, was du glaubst«, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
    Irgendetwas stimmte mit seinem Kopf nicht. Mit seinem Gesicht. Er hatte zwar immer noch dieselbe Visage, aber mir kam es vor, als würde der Kopf in der Luft schweben, ohne direkte Verbindung mit seinem Körper oder gar mit einem zusammenhängenden Gedanken. Er erinnerte mich an eine Zeichentrickfigur, der man gerade den Stuhl unter dem Hintern weggekickt hatte. Die Figur bleibt noch für einen Moment in der Luft hängen, bevor ihr klar wird, dass der Stuhl weg ist.
    Wenn er mit diesem Gesicht Flyer auf dem Markt austeilen würde, überlegte ich, Flyer für das normale Volk, mit dem Aufruf, bei den anstehenden Wahlen doch vor allem für ihn zu stimmen, dann würden sie alle einfach an ihm vorbeilaufen. Das Gesicht erinnerte mich an einen nagelneuen Wagen, der, frisch vom Händler, bereits bei der ersten Ecke einen Pfeilerschrammt und einen Kratzer bekommt. Niemand will einen solchen Wagen wirklich haben.
    Serge war aufgestanden und hatte sich auf den Stuhl mir gegenüber hingesetzt. Den Stuhl von Claire, meiner Frau. Bestimmt spürte er jetzt ihre Körperwärme durch den Stoff seiner Hose. Ein Gedanke, der mich verrückt machte.
    »So, jetzt können wir uns besser unterhalten«, sagte er.
    Ich sagte nichts. Ich bin da ganz ehrlich, aber so hatte ich meinen Bruder am liebsten: zappelnd. Ich warf ihm keinen Rettungsring zu.
    »Sie hat in der letzten Zeit etwas Probleme mit den, na ja, ich fand das Wort schon immer etwas seltsam«, sagte er. »Den Wechseljahren. Es klingt so, als würde es unsere Frauen niemals betreffen.«
    Er machte eine Pause. Wahrscheinlich hatte er sich so gesetzt, damit ich nun etwas über Claire erzähle. Über Claire und die Wechseljahre. »Unsere Frauen«, hatte er gesagt. Aber das ging ihn nichts an. Was oder was nicht mit Claire los war, das war privat.
    »Es sind die Hormone«, sprach er weiter. »Mal ist ihr furchtbar warm und alle Fenster werden aufgerissen, und im nächsten Augenblick bricht sie plötzlich in Tränen aus.« Er drehte den Kopf, den noch immer sichtbar angeschlagenen Kopf, zu den Toiletten, der Restauranttür und dann wieder zu mir. »Vielleicht ist es besser, wenn sie sich darüber mal mit einer Frau austauscht. Du weißt schon, Frauen unter sich. In Momenten wie diesen mache ich sowieso nur alles falsch.«
    Er grinste. Ich grinste nicht zurück. Er nahm die Arme vom Tisch und schüttelte die Hände aus. Danach stützte er die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander. Er sah sich noch einmal flüchtig um.
    »Wir müssen uns eigentlich über etwas anderes unterhalten, Paul«, sagte er.
    In

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