Angerichtet
ihm?, sagte die Falte. Der Bart und seine Tochter hatten ihren jovialen Moment bekommen, jetzt sollten sie endlich verschwinden.
Diesmal musste ich ihm wirklich recht geben. Ich hatte das schon öfter miterlebt, wie die Leute zu lange bei Serge hängen blieben. Ihnen fiel der Abschied schwer, sie wollten den Moment hinauszögern. Ja, sie wollten fast immer noch mehr, ein Foto, ein Autogramm reichte nicht, sie wollten etwas Exklusives, eine exklusive Behandlung. Es musste ein Unterschied zwischen ihnen und all den anderen, die auch ein Foto oder ein Autogramm hatten haben wollen, gemacht werden. Sie wünschten sich eine Geschichte. Eine Geschichte, die sie am nächsten Tag allen erzählen konnten: Weißt du, wen ich gestern Abend getroffen habe? Ja, der. So nett, so normal. Wir hatten gedacht, dass er nach dem Foto wieder in Ruhe gelassen werden wollte. Aber nein! Er hat uns noch zu sich an den Tisch gebeten und bestand darauf, dass wir noch ein Glas Wein mit ihm tranken. Das macht nicht jeder, der so prominent ist. Er aber schon. Es wurde dann noch ziemlich spät.
Serge schaute zu dem Mann mit dem Bart, die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich, aber für Fremde konnte sie noch als einfaches Runzeln von jemandem durchgehen, den das Licht blendete. Er schob sein Messer über die Tischdecke, ein Stück vom Teller weg und dann wieder zurück. Ich wusste, in welchem Dilemma er steckte. Ich war schon öfter dabei gewesen, öfter als es mir lieb war: Mein Bruder wollte in Ruhe gelassen werden. Er hatte sich von seinersonnigsten Seite gezeigt, mit einem Arm um die Schulter der Tochter hatte er sich von dem Vater verewigen lassen, er war normal, er war menschlich, wer für Serge Lohman stimmte, der stimmte für einen normalen und menschlichen Ministerpräsidenten.
Doch jetzt, als der Bart stehen blieb, in Erwartung noch weiteren Small Talks, mit denen er Montag bei der Arbeit ordentlich bei seinen Kollegen angeben konnte, musste Serge sich zurückhalten. Eine bissige oder leicht sarkastische Bemerkung würde genügen, um alles zunichtezumachen, der Sympathievorsprung wäre sofort verpufft, die ganze Charmeoffensive wäre umsonst gewesen. Der Bart würde am Montag seinen Kollegen erzählen, was für ein arroganter Sack dieser Serge Lohman sei, ein Mann, der zu hoch hinauswollte, der Bart und seine Tochter hatten ihn doch wahrlich nicht belästigt, sie hatten ihn nur um ein Foto gebeten und ihn danach bei seinem Privatessen weiter in Ruhe gelassen. Unter den Kollegen würden sich zwei oder drei befinden, die nicht mehr für Lohman stimmen würden, ja, es war durchaus möglich, dass die zwei oder drei Kollegen die Geschichte von dem arroganten, unnahbaren Spitzenkandidaten weitererzählen würden; der sogenannte Schneeballeffekt. Und wie das mit Tratsch so geht, würde die Geschichte aus zweiter, dritter und vierter Hand immer groteskere Formen annehmen. Wie ein Lauffeuer würde sich das äußerst glaubwürdige Gerücht verbreiten, dass Serge Lohman jemanden grob beleidigt hatte, einen ganz normalen Vater und seine Tochter, die ihn sehr höflich um ein Foto gebeten hatten; in späteren Versionen würde der Kandidat für das Amt des Premierministers die beiden rüde hinausbefördert haben.
Obwohl sich mein Bruder das alles selbst eingebrockt hatte, tat er mir in diesem Moment doch leid. Ich hatte schon immer Verständnis für Pop- und Filmstars gehabt, die auf die Paparazzi losgingen, die draußen vor der Diskothek auf sie lauerten und denen sie dann die Kameras zerschmetterten. Sollte Serge sich dazu entschließen, auszuholen und dem Typen voll eins auf die langweilige Fresse zu geben, die er hinter diesem abstoßenden, lächerlichen Koboldbart versteckte, konnte er auf meine hundertprozentige Unterstützung zählen. Ich würde dem Bart die Arme auf den Rücken drehen, überlegte ich, dann könnte Serge sich darauf konzentrieren, ihm die Fresse zu polieren; er müsste richtig fest zuschlagen, denn immerhin musste er durch den Bart durchkommen, um das Gesicht auch ordentlich zu treffen.
Man könnte Serges Einstellung gegenüber den Interessen der Öffentlichkeit milde ausgedrückt als zwiespältig bezeichnen. Bei öffentlichen Auftritten oder Anlässen, während seiner Reden in den Gemeindesälen der Provinz, wenn er Fragen der »Parteianhänger« beantwortet oder sich vor Fernsehkameras oder Radiomikrofonen äußert, wenn er in einer Windjacke Broschüren auf dem Markt austeilt und sich mit den normalen Leuten
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