Angerichtet
meinem Innern spürte ich, wie etwas Kaltes und Hartes – etwas Kaltes und Hartes, das sich bereits den ganzen Abend dort befunden hatte – noch eine Nuance kälter und härter wurde.
»Wir müssen uns über unsere Kinder unterhalten«, sagte Serge Lohman.
Ich nickte. Ich sah kurz zur Seite und nickte noch einmal. Der Mann mit dem Bart hatte schon ein paar Mal in unsere Richtung geschaut. Der Deutlichkeit halber nickte ich noch ein drittes Mal. Der Mann mit dem Bart nickte zurück.
Ich konnte sehen, wie er Messer und Gabel ablegte, sich seiner Tochter zuwandte und ihr etwas zuflüsterte. Die Tochter griff schnell nach ihrer Tasche und kramte darin herum. Inzwischen zog ihr Vater die Kamera aus der Sakkotasche und erhob sich von seinem Stuhl.
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16
»Trauben«, sagte der Maître d’hôtel.
Sein kleiner Finger befand sich weniger als einen halben Zentimeter über einer winzigen Traube mit runden Früchten, die ich zunächst für Beeren gehalten hatte: Johannisbeeren oder andere Beeren, ich kannte mich bei Beerensorten nicht aus, ich wusste nur, dass die meisten für den Menschen ungenießbar waren.
Die »Trauben« lagen neben einem dunkellila Salatblatt, ganze fünf Zentimeter leerer Teller entfernt von dem eigentlichen Hauptgericht, »Perlhuhnfilet, ummantelt mit hauchzarten Scheiben von deutschem Speck«. Auch auf Serges Teller fehlten nicht die Trauben und das Salatblatt, aber mein Bruder hatte sich für die Tournedos entschieden. Über ein Tournedos gibt es nicht viel zu berichten, außer dass es sich um ein Stück Fleisch handelt, aber da doch etwas erzählt werden musste, dozierte der Maître d’hôtel über die Herkunft des Fleisches. Über den »Biohof«, auf dem die Tiere »frei« herumlaufen konnten, bis sie geschlachtet wurden.
Ich bemerkte, wie Serge immer ungeduldiger wurde, er hatte Hunger, wie nur Serge Hunger haben konnte. Ich kannte die Symptome: die Spitze seiner Zunge, die über die Oberlippe leckte, wie die Zunge eines ausgehungerten Hundes in einem Zeichentrickfilm, das Händereiben, das für Außenstehende vielleicht noch als Vorfreude durchgehen konnte, aber daswar es ganz bestimmt nicht. Bei meinem Bruder gab es keine Vorfreude. Auf seinem Teller befand sich ein Tournedos und dieser Tournedos musste verzehrt werden. Schnellstmöglich. Er musste jetzt (Jetzt!) essen.
Nur um meinen Bruder zu ärgern, hatte ich den Maître d’hôtel nach der Traube befragt.
Babette und Claire waren noch nicht wieder zurückgekehrt, doch das kümmerte ihn nicht. »Die kommen gleich wieder«, hatte er gesagt, als wahrhaftig vier Mädchen mit schwarzen Bistroschürzen und unseren Hauptgerichten aufmarschierten, in ihrem Gefolge der Maître d’hôtel. Dieser erkundigte sich, ob sie mit dem Servieren noch etwas warten sollten, bis unsere Frauen wieder da wären, doch diese Vorstellung hatte Serge sogleich von sich gewiesen. »Stellen Sie bitte ab«, hatte er gesagt, während sich seine Zunge bereits über die Oberlippe bewegte, und auch das Händereiben hatte er nicht mehr unterdrücken können.
Der kleine Finger des Maître d’hôtel hatte zunächst auf mein mit deutschem Speck ummanteltes Perlhuhnfilet gezeigt, danach auf die Beilagen: ein mit einem Cocktailspieß zusammengehaltener Stapel »Lasagnestreifen mit Auberginen und Ricotta«, der einem Miniaturclubsandwich ähnelte, sowie einem längs mit einer Sprungfeder durchstochenen Maiskolben. Die Sprungfeder diente wahrscheinlich dazu, den Maiskolben in die Hand nehmen zu können, ohne sich dabei die Finger schmutzig zu machen, es wirkte jedoch vor allem lächerlich, nein, nicht lächerlich, sondern wie etwas, das absichtlich witzig gemeint sein sollte, ein Augenzwinkern des Kochs oder so. Die Sprungfeder war verchromt und ragte zu beiden Seiten etwa zwei Zentimeter aus dem butterglänzenden Maiskolben heraus. Ich mache mir nichts aus Maiskolben, daran herumzunagen fand ich schon immer widerlich, man bekommt zu wenig ab und es bleibt zu viel zwischen den Zähnen hängen, und inzwischen tropft einemdann die Butter vom Kinn. Zudem konnte ich mich nie richtig von dem Gedanken befreien, dass Maiskolben in erster Linie Schweinefutter sind.
Nachdem der Maître d’hôtel die ökologische und artgerechte Aufzucht auf dem Biohof erläutert hatte, der Hof, auf dem Serges Tournedos vom Rind abgeschnitten worden waren, und er angekündigt hatte, dass er gleich noch einmal zurückkäme, um die Gerichte auf den Tellern unserer Frauen zu erklären, hatte
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