Angerichtet
war, dass die Polizei beschlossen hatte, wenn vielleicht auch nicht in Absprache mit Aktenzeichen XY, dass die letzten Bilder nicht in der Sendung gezeigt werden sollten.
Natürlich war alles möglich. Natürlich musste der Sportschuh nicht von Michel oder Rick sein, er konnte auch von einem zufälligen Passanten stammen, der eine halbe Minute, nachdem die beiden Jungen das Geldautomatenhäuschenverlassen hatten, vorbeigekommen war. Aber das war eher unwahrscheinlich, zu dieser späten Stunde, in dieser Straße, irgendwo in einem entlegenen Viertel. Zudem wäre dieser Passant dann ein Zeuge gewesen, der die Jungs hätte sehen können. Ein wichtiger Zeuge, den die Polizei in der Sendung aufgefordert hätte, sich zu melden.
Ehrlich gesagt gab es nur eine einzige Erklärung für den weißen Sportschuh: Die Täter waren zurückgekehrt. Michel und Rick waren zurückgekehrt, um mit eigenen Augen zu sehen, was sie angerichtet hatten.
Das war eigentlich schon beunruhigend genug, allerdings eben auch nur einfach beunruhigend. Das Alarmierende war, dass Aktenzeichen XY die Bilder nicht gesendet hatte. Ich überlegte, welche Gründe sie dafür gehabt hatten. Vielleicht ließen die Bilder Rückschlüsse auf Michel oder Rick (oder beide) zu? Aber das wäre dann doch ein zusätzlicher Grund, die Bilder zu zeigen.
Vielleicht waren die Bilder auch unwichtig? Dachte ich drei Sekunden hoffnungsvoll. Ein unwichtiges Detail, das den Zuschauer nicht weiter interessieren musste? Nein, dachte ich sogleich. Unwichtig konnte es nicht sein. Allein die Tatsache, dass sie zurückgekommen waren, war zu wichtig, als dass man das einfach wegließe.
Man konnte also etwas sehen, etwas, das dem Fernsehzuschauer vorenthalten werden sollte: etwas, von dem nur die Polizei und die Täter wussten.
Man las immer wieder, dass die Polizei bei einer öffentlichen Fahndung gewisse Details verschwieg, die genaue Mordwaffe oder einen Hinweis, den der Mörder bei oder auf dem Opfer hinterlassen hatte. Sie wollten damit verhindern, dass irgendwelche Verrückte sich der Straftat bezichtigten – oder sie imitierten.
Zum ersten Mal fragte ich mich, ob Michel und Rick die Bilder der Überwachungskamera eigentlich auch gesehen hatten.An dem Abend, als Aktenzeichen XY im Fernsehen gekommen war, hatte ich Michel davon erzählt, ich hatte ihm erzählt, dass sie von einer Überwachungskamera gefilmt worden, aber fast nicht zu erkennen waren. Ich hatte noch hinzugefügt, dass vorläufig also nichts passiere. Auch später waren wir nicht wieder auf die Aufnahme zurückgekommen. Ich war davon ausgegangen, es sei das Beste, wenn ich auf überhaupt nichts mehr zurückkäme, um nicht erneut am Geheimnis zwischen mir und meinem Sohn zu rühren.
Ich hatte gehofft, dass es vorübergehen, dass mit der Zeit die Aufmerksamkeit abebben würde, dass die Leute von anderen, neueren Nachrichten in Beschlag genommen und sie den explodierenden Kanister aus ihrem kollektiven Gedächtnis streichen würden. Es müsste irgendwo ein Krieg ausbrechen, ein Anschlag wäre vielleicht noch besser, viele Tote, viele Zivilopfer, worüber die Leute den Kopf schütteln könnten. Eintreffende und wieder abfahrende Krankenwagen, zerknautschtes Blech von Zug- oder Straßenbahnwaggons, ein zehnstöckiges Hochhaus, dessen Front weggesprengt war – nur so würde die Obdachlose in dem Geldautomatenhäuschen in den Hintergrund rücken, ein Unfall, ein kleiner Unfall, durch viel größere Unfälle in den Schatten gestellt.
Darauf hatte ich in den ersten Wochen gehofft, dass die Nachricht veralten würde, vielleicht nicht innerhalb eines Monats, aber doch innerhalb eines halben Jahres – jedenfalls spätestens nach einem Jahr. Auch die Polizei würde dann von anderen, dringlicheren Vorfällen in Beschlag genommen werden. Immer weniger Ermittler hätten Zeit, sich um diese alte Geschichte zu kümmern. Und um den Typus des hartnäckigen Ermittlers, der sich auf eigene Faust und ohne Weisung jahrelang in ungelöste Fällen verbeißt, machte ich mir keine Sorgen: Solche Typen gab es nur in Fernsehkrimis.
Nach dem halben Jahr, nach dem vollen Jahr würden wir als glückliche Familie weiterleben können. Es gab zwar irgendwoeine Narbe, doch eine Narbe steht dem Glück nicht im Weg. Und in der Zwischenzeit würde ich mich möglichst unauffällig verhalten. Einfach ganz normale Sachen machen. Ab und zu ins Restaurant gehen, ins Kino oder mit Michel zu einem Fußballspiel. Abends bei Tisch behielt ich meine
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