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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Innern war ich stolz auf diese Rangordnung. Lieber so als andersherum, dachte ich im Stillen. Michel wurde in der Schule nie geärgert, er war immer von einer Schar folgsamer Freunde umgeben, Freunde, die nichts lieber wollten, als in der Nähe meines Sohnes zu sein. Aus Erfahrung wusste ich, wie sehr Eltern litten, deren Kinder in der Schule gehänselt wurden. Ich hatte nie gelitten.
    »Weißt du, was das Allerbeste wäre?«, sagte ich. »Du solltest dein Handy wegwerfen. Irgendwohin, wo sie es nie mehr wiederfinden können.« Ich sah mich um. »Zum Beispiel hier.« Ich zeigte auf die Brücke, über die er eben geradelt war. »Ins Wasser. Wenn du willst, suchen wir am Montag gemeinsam ein neues aus. Seit wann hast du das hier nun schon? Wir sagen einfach, es wurde geklaut, und verlängern den Vertrag, und dann hast du am Montag das neueste Samsung oder Nokia oder was du auch willst …«
    Ich streckte die Hand nach ihm aus, mit der Handfläche nach oben.
    »Möchtest du, dass ich es für dich wegwerfe?«, fragte ich.
    Er sah mich an. Ich sah die Augen, die ich mein ganzes Leben lang gesehen hatte, aber ich sah auch etwas anderes, das ich lieber nicht sehen wollte: Er sah mich mit einem Blick an, als würde ich mich über eine Bagatelle aufregen, als sei ich nur ein lästiger, besorgter Vater, der wissen will, wann sein Sohn von der Party nach Hause kommt.
    »Michel, hier geht es nicht um irgendeine Party«, sagte ich schneller und lauter als eigentlich gewollt. »Es geht hier um deine Zukunft!« Zukunft – auch wieder so ein abstrakter Begriff, dachte ich, und bedauerte sofort, dass ich das Wort verwendet hatte. »Weshalb verdammt noch mal habt ihr die Bilder ins Netz gestellt?« Nicht fluchen!, ermahnte ich mich selbst. Wenn du jetzt zu fluchen anfängst, dann ähnelst du diesen zweitklassigen Laienschauspielern, die du so sehr hasst. Doch inzwischen schrie ich sogar. Jeder, der sich in der Nähe des Stehpults oder der Garderobe aufhielte, würde uns hören können. »War das auch cool? Oder stark? War das auch egal? Men in Black III ! Was um Himmels willen treibt ihr da eigentlich?«
    Er hatte die Hände in die Jackentasche gesteckt und ließ denKopf hängen, seine Augen lugten nur knapp unter der Mütze hervor.
    »Wir haben das nicht gemacht«, sagte er.
    Die Restauranttür ging auf, Lachen erklang und Leute traten hinaus. Zwei Männer und eine Frau. Die Männer trugen Maßanzüge und hatten die Hände in den Hosentaschen, die Frau trug ein silberfarbenes Kleid, das ihren Rücken fast vollständig entblößte, und eine Schultertasche im selben Farbton.
    »Hast du das wirklich gesagt?«, kicherte die Frau und machte ein paar unsichere Schritte auf ihren ebenfalls silberfarbenen Stilettos. »Zu Hugo?«
    Einer der Männer holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und warf ihn in die Luft. »Warum nicht?«, sagte er; er musste den Arm weit ausstrecken, um die Schlüssel aufzufangen. »Du bist verrückt!«, kreischte die Frau. Ihre Schuhe knirschten auf dem Kies, als sie an uns vorbeigingen. »Wer kann noch fahren?«, sagte der andere Mann, worauf alle drei in Gelächter ausbrachen.
    »Okay, warte mal«, sagte ich, nachdem die Gruppe das Ende des Kieswegs erreicht hatte und links in Richtung der Brücke abbog. »Ihr zündet eine Obdachlose an und danach filmt ihr das. Mit deinem Handy. Genau wie bei dem Alkoholiker an der U-Bahn-Haltestelle.« Ich merkte, dass der Mann, der die Prügel auf dem Bahnsteig einkassiert hatte, nun zu einem Alkoholiker geworden war. Durch meine eigenen Worte. Vielleicht war es ja wirklich so, dass ein Alkoholiker eher Prügel verdiente als einer, der zwei oder drei Gläser am Tag trinkt. »Und dann steht es plötzlich im Internet, denn so wollt ihr es doch? Dass möglichst viele Leute es sehen?« Ob sie den Alkoholiker etwa auch bei YouTube reingestellt hatten, fiel mir plötzlich ein. »Steht der Alkoholiker auch schon im Netz?«, schob ich gleich als Frage hinterher.
    Michel stieß einen Seufzer aus. »Papa! Du hörst nicht zu!«
    »Und ob ich zuhöre! Ich höre viel zu gut zu. Ich …« Wiederging die Restauranttür auf, ein Mann im Anzug sah sich um, machte dann ein paar Schritte zur Seite, bis er neben dem Eingang außerhalb des Lichts stand, und zündete sich eine Zigarette an. »Verdammte Scheiße«, sagte ich.
    Michel drehte sich um und ging zu seinem Fahrrad.
    »Michel, wo willst du hin? Ich bin noch nicht fertig.«
    Doch er ging einfach weiter, er zog seinen Schlüssel aus der

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