Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
Vom Netzwerk:
ganze Aufmerksamkeit auf Michel und Rick richtete, und damit weniger auf das Werfen der beim Baum gefundenen Sachen.
    Wer sind diese Jungen?, schienen die verlangsamten Bilder in Kombination mit der Unheil verkündenden Musik zu fragen. Was sie da tun, wissen wir allmählich. Aber wer sind sie?
    Der Hammer kam ganz am Schluss. Nach dem Lichtblitz und der zuschlagenden Tür wurde das Bild vollkommen schwarz. Ich wollte mir schon das nächste Video ansehen, doch unter dem Film zeigte die Zeitskala an, dass Men in Black III insgesamt 2,58 Minuten dauerte und dass jetzt erst 2 Minuten38 Sekunden gelaufen waren.
    Wie gesagt, ich hatte das Video also fast schon weggeklickt, eigentlich hatte ich erwartet, das Bild würde zwanzig Sekunden schwarz bleiben – die Musik wurde wieder lauter, es würde höchstens noch ein Abspann folgen, überlegte ich, sonst nichts.
    Wie anders wäre dieser Abend, unser Essen im Restaurant, verlaufen, wenn ich den Film tatsächlich in diesem Moment weggeklickt hätte?
    In Unkenntnis, lautete die Antwort. Na ja, relativer Unkenntnis. Ich hätte noch ein paar Tage oder vielleicht auch ein paar Wochen oder Monate meinen Traum von der glücklichen Familie weiterleben können. Ich hätte meine Familie nur einen einzigen Abend mit der meines Bruders vergleichen müssen, ich hätte zusehen können, wie Babette die Tränen hinter der dunklen Brille zu verbergen versuchte und wie freudlos mein Bruder das Fleisch mit vier Bissen hinunterschlang. Danach wäre ich mit meiner Frau nach Hause geschlendert, ich hätte ihr einen Arm um die Taille gelegt, und ohne einander anzuschauen, hätten wir beide gewusst, dass sich glückliche Ehepaare tatsächlich gleichen.
    Das Bild veränderte sich von schwarz zu grau. Wieder konnte man die Tür des Automatenhäuschens sehen, doch nun von draußen. Die Bildqualität war etwas schlechter, etwa zu vergleichen mit der Bildqualität eines Handys, dachte ich gleich.
    Der weiße Sportschuh.
    Sie waren zurückgekehrt.
    Sie waren zurückgekehrt, um aufzuzeichnen, was sie angerichtet hatten.
    »Holy shit!«, sagte eine Stimme außerhalb des Bildes. (Rick)
    »Igitt!«, sagte eine andere Stimme. (Michel)
    Die Kamera war nun auf das Fußende des Schlafsacks gerichtet. Bläulicher Rauch hing in der Luft. Quälend langsam bewegte sich die Kamera vom Fuß des Schlafsacks nach oben.
    »Lass uns gehen.« (Rick)
    »Jedenfalls riecht es hier nicht mehr so eklig.« (Michel)
    »Michel … komm jetzt …«
    »Komm, stell dich daneben. Du musst Jackass sagen. Dann hätten wir das jedenfalls.«
    »Ich gehe …«
    »Nein, du Arsch. Du bleibst hier!«
    Am Kopfende des Schlafsacks hielt die Kamera an. Das Bild blieb stehen und wurde schließlich schwarz. Mit roten Buchstaben erschien der folgende Text:
    Men in Black III
The Sequence coming soon
    Ich wartete ein paar Tage. Michel war oft nicht da, sein Handy hatte er immer dabei, erst heute hatte ich Gelegenheit – heute Abend, kurz bevor wir ins Restaurant gehen wollten. Während er im Garten sein Fahrrad flickte, war ich in sein Zimmer gegangen.
    Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass er es gelöscht hatte. Ich hoffte es, ich betete inständig, dass er es gelöschthatte. Ganz vage hoffte ich noch, dass die Bilder im Internet alles waren – dass da nicht noch mehr kam.
    Doch es kam noch mehr.
    Vor nur ein paar Stunden hatte ich den Rest gesehen.

[Menü]
    26
    »Michel«, drängte ich meinen Sohn, der sich bereits halb umgedreht hatte und wegfahren wollte, und der gesagt hatte, es sei doch egal, »Michel, du musst die Filme löschen. Du hättest sie schon längst löschen müssen, jetzt aber erst recht.«
    Er blieb stehen. Wieder scharrte er mit seinen weißen Nikes im Kies herum.
    »Ach, Papa …«, setzte er an. Es sah so aus, als wolle er noch etwas sagen, doch er schüttelte nur den Kopf.
    Auf beiden Filmen hatte ich hören und sehen können, wie er seinen Cousin herumkommandierte, manchmal sogar anschnauzte. Genau das hatte Serge ihm immer unterstellt, und zweifellos würde er es heute Abend erneut ansprechen: dass Michel einen schlechten Einfluss auf Rick hatte. Ich hatte das immer abgestritten. Mir war das wie eine Masche vorgekommen, mit der er ganz bequem die Verantwortung für die Taten seines Sohnes abstreifen konnte.
    Seit ein paar Stunden (aber eigentlich natürlich schon viel länger) wusste ich, dass es stimmte. Michel war der Anführer, Michel sagte, wo es langging, Rick war der brave Mitläufer. Und in meinem tiefsten

Weitere Kostenlose Bücher