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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Familie, deren Mitglieder es gewohnt waren, das Personal herumzukommandieren.
    Aber es kam noch etwas anderes hinzu. Es ist in den Niederlanden passiert. Wir befinden uns hier nicht in der Bronx, wir befinden uns nicht in den Slums von Johannesburg oder Rio de Janeiro. In den Niederlanden gibt es ein soziales Netz. Hier braucht niemand anderen in einem Geldautomatenhäuschen im Weg zu liegen.
    »Weißt du, was das Beste ist?«, hatte ich gesagt. »Wir belassen es erst einmal dabei. Solange nichts passiert, passiert auch nichts.«
    Und mein Sohn hatte mich sekundenlang angesehen. Vielleicht kam er sich schon zu groß vor, um »lieber Papa« zu sagen, aber in seinem Blick konnte ich außer Angst auch Dankbarkeit erkennen.
    »Meinst du?«, fragte er zögerlich.

[Menü]
    24
    Und jetzt, im Garten des Restaurants, standen wir uns erneut schweigend gegenüber. Michel hatte den Slider seines Handys ein paar Mal hoch- und wieder runtergeschoben und es dann in seine Jackentasche gesteckt.
    »Michel …«, setzte ich an.
    Er vermied es, mir ins Gesicht zu sehen. Den Kopf hatte er halb weggedreht, zum dunklen Park hin; auch sein Gesicht blieb im Dunkeln. »Ich habe keine Zeit«, sagte er. »Ich muss weg.«
    »Michel. Warum hast du mir nichts davon erzählt? Von den Filmen oder zumindest dem einen Film? Damals? Als es noch ging?«
    Er rieb sich die Nase, er schabte mit seinem weißen Sportschuh im Kies und zuckte dann mit den Schultern.
    »Michel?«
    Er sah auf den Boden. »Ist doch egal«, sagte er.
    Für einen Moment dachte ich an den Vater, der ich hätte sein können, der ich vielleicht hätte sein müssen, den Vater, der jetzt »Das ist überhaupt nicht egal!« losdonnern würde. Für ermahnende Worte war es inzwischen zu spät, der Zug war schon längst abgefahren: damals, am Abend der Fernsehausstrahlung, in seinem Zimmer. Oder vielleicht sogar noch früher.
    Vor ein paar Tagen, kurz nachdem Serge mich angerufenhatte, um sich fürs Restaurant zu verabreden, hatte ich mir die Sendung von Aktenzeichen XY noch einmal im Internet angesehen. Ich fand die Idee nicht schlecht und redete mir ein, dadurch besser vorbereitet zu dem Essen erscheinen zu können.
    »Wir müssen uns unterhalten«, hatte Serge gesagt.
    »Worüber?«, hatte ich geantwortet. Ich hatte mich dumm gestellt, ich dachte, das sei besser so.
    Auf der anderen Seite der Leitung hatte mein Bruder einen tiefen Seufzer ausgestoßen.
    »Ich glaube nicht, dass ich dir das noch erzählen muss«, sagte er.
    »Weiß Babette es?«, fragte ich einfach ins Blaue.
    »Ja, deshalb möchte ich auch ein Gespräch zu viert. Es geht uns alle vier an. Sie sind unsere Kinder.«
    Mir fiel auf, dass er nicht nachgefragt hatte, ob auch Claire davon wusste. Offenbar ging er davon aus – oder es interessierte ihn nicht. Dann hatte er den Namen des Restaurants genannt, das Restaurant, wo man ihn kannte. Er hatte gesagt, dass eine Wartezeit von sieben Monaten für einen Tisch keine Seltenheit sei.
    Wusste Claire es auch?, dachte ich jetzt und schaute zu meinem Sohn, der sich in diesem Moment offenbar tatsächlich anschickte, mit seinem Fahrrad zu verschwinden.
    »Michel, warte noch mal«, sagte ich. Wir müssen uns unterhalten, würde der andere Vater sagen, der Vater, der ich nicht war.
    Ich hatte mir die Bilder der Überwachungskamera also erneut angesehen, den lachenden Jungen, der eine Schreibtischlampe und einen Müllsack auf die unsichtbare Obdachlose warf. Und schließlich den Lichtblitz der explodierenden Benzindämpfe, die Jungs, die eilig abhauten, die Telefonnummern, die man anrufen konnte – oder sonst die Polizei in Ihrem Wohnort, mit der man in Verbindung treten konnte.
    Ich sah es mir noch einmal an, besonders den letzten Teil, als der Kanister und noch was geworfen wurden, ein Feuerzeug, wie ich inzwischen wusste. Ein Zippo, ein Feuerzeug mit Schutzkappe, ein Gasfeuerzeug, das erst dann ausgeht, wenn die Klappe wieder zuschnappt. Was machten die Jungs, die beide nicht rauchten, mit einem solchen Feuerzeug? Es gab Fragen, die ich nicht gestellt hatte, aus dem einfachen Grund, weil sie mir nicht wichtig erschienen, aus einem starken Bedürfnis nach Unkenntnis heraus, könnte man sagen – aber diese Frage hatte ich dann doch gestellt. »Um Feuer geben zu können«, hatte Michel ohne zu zögern geantwortet. »Mädchen«, hatte er noch hinzugefügt, als ich ihn nach der Antwort offenbar etwas dümmlich angeschaut hatte. »Mädchen bitten dich um Feuer, für einen Joint oder

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