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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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eine Marlboro light, man lässt sich eine Chance entgehen, wenn man dann kein Feuerzeug dabeihat.«
    Wie gesagt sah ich mir ein zweites Mal den letzten Teil an. Nach dem Lichtblitz verschwanden die beiden Jungs durch die Glastür. Man konnte sehen, wie die Tür langsam wieder ins Schloss fiel, und dann hörte der Film auf.
    Beim zweiten Anschauen sah ich etwas, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Ich klickte bis an die Stelle zurück, wo Michel und Rick durch die Tür verschwanden. Ab dem Zufallen der Tür betrachtete ich den Film in Zeitlupe, danach noch langsamer, Bild für Bild.
    Muss ich noch groß die körperlichen Reaktionen beschreiben, die sich angesichts meiner Entdeckung bei mir einstellten? Ich glaube, sie sprechen für sich. Herzklopfen, trockene Lippen und trockene Zunge, der Eiszapfen hinten im Kopf, die Spitze stach in den obersten Halswirbel, in den Hohlraum, wo es weder Knochen noch Knorpel gibt und der Schädel anfängt, alles war da in dem Moment, als ich das letzte Bild der Überwachungskamera anhielt.
    Dort rechts unten in der Ecke: etwas Weißes. Etwas Weißes,das beim einmaligen Anschauen der Bilder niemandem auffallen würde. Weil alle annähmen, inzwischen das Schlimmste gesehen zu haben. Die Lampe, die Müllsäcke, den Kanister … Zeit, den Kopf zu schütteln und empörte Worte zu äußern: Jugend, Welt, wehrlos, Mord, Videoclips, Computerspiele, Arbeitslager, härtere Strafen, Todesstrafe.
    Das Bild stand still, und ich sah auf das weiße Ding. Draußen war es vollkommen dunkel, in der Glastür spiegelte sich ein Teil des Innenraums aus dem Häuschen: der graue Fliesenboden, der eigentliche Automat mit den Tasten und dem Bildschirm, und die Marke, das Logo sagt man, glaube ich, der Bank, zu der der Geldautomat gehört.
    Rein theoretisch hätte das weiße Ding eine Spiegelung sein können, eine Spiegelung vom Schein der Neonleuchte auf einen Gegenstand im Rauminneren – oder von einem der Gegenstände, die die Jungs auf die Frau abgefeuert hatten.
    Aber das war wirklich alles nur rein theoretisch. Das weiße Ding befand sich draußen, es war von draußen, von der Straße, ins Bild gekommen. Einem x-beliebigen Zuschauer wäre es nicht aufgefallen, schon gar nicht in der Sendung Aktenzeichen XY. Dafür musste man den Film anhalten oder ihn sich Bild für Bild ansehen, wie ich es gemacht hatte, und selbst dann noch …
    Man musste wissen, was man sah. Darum ging es eigentlich. Ich war mir sehr sicher, das zu kennen, was ich da sah, weil ich das weiße Ding sofort als das erkannt hatte, was es war.
    Ich klickte auf »Bild vergrößern«. Das Bild wurde nun zwar größer, aber auch deutlich verschwommener und konturloser. Ich musste unwillkürlich an Blow up denken, den Film von Michelangelo Antonioni, wo ein Fotograf beim Vergrößern eines Fotos einen Mann mit einer Pistole im Gebüsch entdeckt: wie sich später herausstellt, eine Waffe, die für einen Mord benutzt wurde. Doch hier auf dem Computer war eine Vergrößerung sinnlos. Ich klickte auf »Bildschirm verkleinern« und nahm mir die Lupe zur Hand, die ich auf meinem Schreibtisch liegen hatte.
    Mit der Lupe kam es nun darauf an, den richtigen Abstand zu finden. Je nachdem, ob ich näher an den Bildschirm heranging oder mich von ihm entfernte, wurde das Bild schärfer. Schärfer und größer.
    Noch schärfer und noch größer sah ich nun bestätigt, was ich schon zuvor meinte erkannt zu haben: einen Sportschuh. Einen weißen Sportschuh, wie ihn unzählige Menschen tragen; unzählige Menschen, wie mein Sohn und mein Neffe.
    An Letzteres dachte ich tatsächlich ganz kurz, höchstens eine Zehntelsekunde: Ein einziger Sportschuh verweist zwar auf zehntausend Sportschuhträger, umgekehrt ist es aber schwierig, unter zehntausend Sportschuhträgern den richtigen auszumachen. Allerdings beschäftigte ich mich nicht allzu lange mit dieser Frage. Mich interessierte vielmehr die Botschaft, die dieses Bild vermittelte, oder besser ausgedrückt: die Bedeutung des weißen Sportschuhs draußen vor der Glastür des Geldautomatenhäuschens. Oder noch besser gesagt: die Semantik.
    Ich sah noch einmal genau hin. Ich hielt die Lupe mal näher dran, mal weiter weg. Bei näherer Betrachtung fiel eine leichte Verfärbung über dem Sportschuh auf, das Schwarz der Straße draußen war eine Nuance dunkler. Das war wahrscheinlich das Bein, das Hosenbein des Sportschuhträgers, der ins Bild trat.
    Sie waren zurückgekehrt. Das war die erste Bedeutung. Die zweite

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