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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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unterbrach ich ihn erneut. »Korea, Vietnam, Kuwait, Nahost und Israel, den Sechstagekrieg, den Jom-Kippur-Krieg, die Palästinenser. Alles Stoff, den ich durchnehme. Da kann man dann wirklich nicht mit einer Arbeit über den Staat Israel ankommen, in der steht, dass dort vor allem Apfelsinen gepflückt werden und auf Sandalen ums Lagerfeuer getanzt wird. Überall fröhliche und glückliche Menschen und dann noch das Geschwätz über die Wüste, in der inzwischen wieder Blumen blühen. Ich will damit sagen, es werden dort täglich Menschen erschossen, Busse werden in die Luft gejagt. Worum geht es hier eigentlich?«
    »Sie kam heulend zu mir, Paul.«
    »Ich würde auch heulen, wenn ich einen derartigen Mist abgegeben hätte.«
    Der Rektor sah mich an. Ich bemerkte etwas in seinem Blick, das ich zuvor noch nicht gesehen hatte: Etwas Neutrales oder eher etwas Nichtssagendes, ungefähr genauso nichtssagend wie sein Fischgrätanzug. Und dabei lehnte er sich wieder zurück, diesmal jedoch weiter als zuvor.
    Er nimmt Abstand, dachte ich. Nicht Abstand, korrigierte ich mich gleich darauf: Abschied.
    »Paul, du darfst solche Sachen einfach nicht zu einer Fünfzehnjährigen sagen«, sagte er. Auch in seine Stimme hatte sich nun ein neutraler Ton eingeschlichen. Er wollte nicht mit mir diskutieren, er teilte mir seine Meinung mit. Ich wusste ganz genau, dass er, wenn ich ihn jetzt gefragt hätte, wieso man solche Dinge nicht sagen darf, mit »darum nicht« geantwortet hätte.
    Ganz kurz dachte ich an das Mädchen. Sie hatte ein hübsches, aber zu heiteres Gesicht. Grundlos heiter. Eine fröhliche, aber sexlose Freude, genauso fröhlich und sexlos wie die anderthalb Seiten ihrer Arbeit, die sie dem Apfelsinenpflücken gewidmet hatte.
    »Mag sein, dass man solche Sachen auf dem Fußballfeld grölt«, fuhr der Rektor fort, »in einer Schule jedenfalls nicht. Jedenfalls nicht in unserer Schule und schon gar nicht als Lehrer.«
    Was ich genau zu dem Mädchen gesagt habe, spielt jetzt wirklich keine Rolle, möchte ich gleich vorausschicken. Das lenkt nur ab. Es fügt dem nichts weiter hinzu. Manchmal rutschen einem Sachen heraus, die man später vielleicht bereut. Nein, es ist vielleicht kein Bereuen. Man sagt etwas so treffend, dass der Adressat es sein ganzes Leben lang mit sich herumschleppen wird.
    Ich dachte an ihr heiteres Gesicht. Als ich ihr sagte, was ich gesagt habe, brach es entzwei. Wie eine Vase. Oder eher wie ein Glas, das durch einen zu hohen Ton zerschellt.
    Ich beobachtete den Rektor und spürte, wie sich meine Hand zur Faust ballte. Mir wurde das allmählich zu viel, ich hatte keine Lust mehr auf diese Diskussion. Wie heißt das noch … die Differenzen waren unüberbrückbar. So sah es eigentlich aus. Eine Kluft tat sich zwischen uns auf. Manchmal stockte das Gespräch. Ich sah den Rektor an und stellte mir vor, wie ich ihm die geballte Faust mitten ins graue Gesicht dreschen würde. Knapp unterhalb der Nase, meine Knöchel voll auf die leere Stelle zwischen Nasenlöchern und Oberlippe. Zähne würden abbrechen, Blut würde aus der Nase spritzen, und es würde Klarheit über meine Ansichten herrschen. Doch ich hatte meine Zweifel, ob wir damit der Lösung des Konflikts näher kämen. Ich musste es ja nicht bei einem Schlag belassen. Ich konnte die nichtssagende Visage auch komplett demolieren, viel hässlicher konnte sie nicht werden. Meine Position in der Schule wäre unhaltbar, wie man so schön sagte, obwohl das im Moment noch meine geringste Sorge war. Genau betrachtet war meine Position schon seit Längerem untragbar. Seit dem Tag, als ich zum ersten Mal durch den Haupteingang diese Schule betrat, war die Rede von einerunhaltbaren Position. Der Rest war nur Aufschub. Die vielen Stunden, die ich hier vor der Klasse gestanden hatte: sie waren nie etwas anderes als Aufschub gewesen.
    Es blieb die Frage: Sollte ich den Rektor zusammenschlagen? Sollte ich aus ihm ein Opfer machen? Jemand, mit dem die Leute dann Mitleid hätten. Ich dachte an die Schüler, die sich scharenweise vor den Fenstern drängeln würden, wenn er im Rettungswagen abtransportiert würde. Ja, ein Rettungswagen würde kommen, früher würde ich nicht aufhören. Die Schüler würden das bestimmt schade finden.
    »Paul?«, sagte der Rektor und rückte auf dem Schreibtischstuhl hin und her. Er witterte etwas. Er witterte die Gefahr. Er versuchte eine Haltung einzunehmen, die den ersten Schlag möglichst gut abfing.
    Und was, wenn der

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