Angerichtet
erhob mich, um damit zu signalisieren, dass die Unterhaltung für mich beendet war. An der Tür reichte ich ihm die Hand. Er drückte sie. Er drückte die Hand, die sein Leben so existenziell hätte verändern können.
»Ich bin froh, dass du es so …«, begann er, ohne jedoch den Satz zu beenden.
»Herzliche Grüße von mir an … an deine Frau«, sagte er.
»An Carla«, sagte ich.
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31
Und so ging ich dann also ein paar Tage später zum Schulpsychologen. Zu Van Dieren. Zu Hause erzählte ich die Wahrheit. Ich erzählte Claire, ich würde es die nächste Zeit etwas ruhiger angehen lassen. Ich erzählte ihr von den Medikamenten, die mir der Schulpsychologe über den Hausarzt hatte verschreiben lassen. Und zwar nach einem Gespräch, das noch keine halbe Stunde gedauert hatte.
»Ach ja«, sagte ich zu Claire. »Er hat mir empfohlen, eine Sonnenbrille zu tragen.«
»Eine Sonnenbrille?«
Er sagte, es würde zu viel auf mich eindringen, und damit könne ich die Eindrücke etwas dämpfen.«
Ich hatte nur einen kleinen Teil der Wahrheit unterschlagen. Indem ich nur diesen kleinen Teil verschwieg, bewahrte ich mich vor einer richtigen Lüge.
Der Psychologe hatte mir einen Namen genannt. Einen deutsch klingenden Namen. Es war der Nachname des Neurologen, nach dem die von ihm entdeckte Krankheit benannt worden war. »Mit einer Therapie kann ich es ein wenig steuern«, sagte Van Dieren und sah mich dabei ernst an, »aber Sie müssen es in erster Instanz doch als ein neuronales Problem betrachten. Mit den richtig eingestellten Medikamenten bekommt man diese Anomalie sehr gut in den Griff.«
Danach hat er mich gefragt, ob es, soweit mir bekannt,in der Familie Mitglieder mit ähnlichen Beschwerden oder Symptomen gebe. Ich dachte an meine Eltern und dann an meine Großeltern. Ich ging die ganze Ahnenreihe durch – Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, und versuchte dabei nicht zu vergessen, was Van Dieren gesagt hatte, und zwar, dass das Syndrom oft kaum wahrnehmbar war: die meisten Leute würden normal funktionieren, sie wären höchstens etwas zurückgezogener, sagte er. In größeren Gesellschaften führten sie oft entweder das große Wort oder sie sagten überhaupt nichts.
Schließlich schüttelte ich den Kopf. Mir fiel niemand ein. »Sie haben mich nach meiner Familie gefragt«, sagte ich. »Soll das bedeuten, dass es vererbbar ist?«
»Manchmal ja, manchmal nein. Wir sehen uns immer die Familiengeschichte an. Haben Sie Kinder?«
Es dauerte etwas, bis die Frage in ihrer ganzen Tragweite zu mir durchgedrungen war. Bis dahin hatte ich nur an das genetische Material gedacht, das meiner Geburt vorausgegangen war. Jetzt dachte ich zum ersten Mal an Michel.
»Herr Lohman?«
»Einen Moment.«
Ich dachte an meinen fast vierjährigen Sohn. An die überall auf dem Boden verstreuten Autos in seinem Kinderzimmer. Zum ersten Mal in meinem Leben überlegte ich, wie er mit den Autos spielte. Im nächsten Augenblick fragte ich mich, ob ich jetzt jede seiner Handlungen unter dem Blickwinkel der Krankheit betrachten würde.
Und im Kindergarten? Hatten die im Kindergarten nie etwas bemerkt? Ich zermarterte mir das Hirn, ob jemand vielleicht einmal etwas gesagt hatte, eine Bemerkung zwischen Tür und Angel, darüber, dass Michel sich absonderte oder sich ansonsten abweichend verhalten würde – doch es fiel mir nichts ein.
»Müssen Sie überlegen, ob Sie Kinder haben?«, fragte der Psychologe mit einem Lächeln.
»Nein«, sagte ich. »Es ist nur …«
»Sie überlegen vielleicht, ob Sie noch welche bekommen.«
Noch heute weiß ich ganz genau, dass ich noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt habe, als ich ihm antwortete.
»Ja«, sagte ich. »Würden Sie mir da in meinem Fall abraten?«
Van Dieren beugte sich vor, verschränkte die Hände unterm Kinn und stützte sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch auf. »Nein. Das heißt: Heutzutage kann man solche Anomalien schon sehr gut vor der Geburt bei einer Fruchtwasseruntersuchung feststellen. Sie müssen sich allerdings zuvor darüber im Klaren sein, was sie da tun. Ein Schwangerschaftsabbruch ist keine leichte Entscheidung.«
Da schossen mir bereits alle möglichen Sachen durch den Kopf. Eins nach dem anderen, ermahnte ich mich. Immer erst eins nach dem anderen angehen. Ich hatte nicht gelogen, als ich die Frage des Psychologen, ob wir noch Kinder bekommen wollten, mit Ja beantwortet hatte. Ich hatte höchstens verschwiegen, dass wir bereits eines hatten. Die
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