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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Opfer automatisch unschuldige Opfer sind.«
    Der Rektor guckte auf ein Blatt, das er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.
    »Hier steht …«, fing er an, aber dann schüttelte er den Kopf, nahm die Brille ab und knetete mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Du musst das verstehen, Paul, es handelt sich tatsächlich um Beschwerden der Eltern. Eltern beschweren sich immer. Du brauchst mir nicht zu erklären, wie Eltern gestrickt sind, die sich beschweren. Meistens geht es um belanglose Dinge. Ob man in der Cafeteria auch Äpfel kriegen kann. Welche Ansicht vertreten wir bezüglich Sport während der Menstruation. Bagatellen. Es geht nur selten um den Unterrichtsinhalt. Aber diesmal schon. Und das ist nicht gut für die Schule. Es wäre für uns alle das Beste, wenn du dich einfach an den Unterrichtsstoff hieltest.«
    Zum ersten Mal während dieses Gesprächs spürte ich ein leichtes Prickeln im Nacken. »Und in welcher Hinsicht soll ich mich nicht an den Unterrichtsstoff gehalten haben?«, fragte ich ruhig.
    »Hier steht …« Der Rektor fummelte wieder an dem Blatt Papier auf dem Schreibtisch herum. »Wieso erzählst du es mir eigentlich nicht selbst? Was hast du denn genau gesagt, Paul?«
    »Nichts Besonderes. Ich habe sie einfach eine Rechnung aufstellen lassen. Wenn man eine Gesellschaft mit hunderttausend Leuten hat, wie viele Arschlöcher befinden sich darunter? Wie viele Väter, die ihre Kinder anschnauzen? Wie viele Blödmänner, die aus dem Mund stinken, sich aber weigern, etwas dagegen zu tun? Wie viele lahmarschige Nichtsnutze, die sich ihr Leben lang über ein nicht existierendes Unrecht beklagen, das ihnen angeblich widerfahren ist? Seht euch doch mal um, habe ich zu ihnen gesagt. Bei wie vielen Klassenkameraden wäre es euch lieber, wenn sie morgen nicht mehr im Klassenzimmer auftauchten? Denkt an dieses eine Familienmitglied in eurer Familie, den nervigen Onkel mit seinen blödsinnigen Geschichten, den hässlichen Cousin, der seine Katze misshandelt. Denkt daran, wie erleichtert ihr wäret – und zwar nicht nur ihr, sondern die ganze Familie –, wenn dieser Onkel oder dieser Cousin auf eine Bodenmine träte oder aus höchster Höhe von einer Flugzeugbombe getroffen würde. Wenn dieses Familienmitglied vom Erdboden verschwände. Und jetzt denkt mal an die ganzen Opfer aller bisherigen Kriege – ich habe nie speziell den Zweiten Weltkrieg angesprochen, ich ziehe ihn nur oft als Beispiel heran, weil das der Krieg ist, mit dem sie am meisten anfangen können – und denkt an die tausend, vielleicht auch zehntausend Toten, die euch grad gestohlen bleiben können. Allein statistisch ist es ausgeschlossen, dass all diese Opfer nur gute Menschen waren, was immer das für Menschen auch gewesen sein mögen. Die Ungerechtigkeit liegt vielmehr in der Tatsache, dass auch die Arschlöcher auf der Liste mit unschuldigen Opfern landen. Dass auch ihre Namen auf den Kriegsmahnmalen erwähnt werden.«
    Ich machte eine kurze Pause, um Luft zu holen. Wie gut kannte ich diesen Rektor eigentlich? Er hatte mich ganz ausreden lassen, aber was sagte das schon? Vielleicht reichte es ihm bereits. Vielleicht brauchte er nicht mehr, um mich zu suspendieren.
    »Paul …«, fing er an, er hatte seine Brille wieder aufgesetzt,doch er sah mich nicht an, sondern schaute auf einen Punkt auf seinem Blatt Papier. »Darf ich dir mal eine persönliche Frage stellen, Paul?«
    Ich sagte nichts.
    »Bist du es vielleicht ein bisschen leid?«, fragte der Rektor. »Ich meine das Unterrichten. Versteh mich bitte nicht falsch, ich werfe dir nichts vor, aber früher oder später überkommt es uns alle einmal. Dass wir keine Lust mehr haben. Dass wir über die Sinnlosigkeit unseres Berufs nachdenken.«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ach …«, sagte ich.
    »Ich habe das auch erlebt. Als ich selbst noch vor der Klasse gestanden habe. Ein ziemlich unangenehmes Gefühl. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Raubt einem jegliches Fundament, alles, woran man geglaubt hat. Geht es dir jetzt vielleicht ähnlich, Paul? Glaubst du noch an deinen Beruf?«
    »Ich habe immer zuerst an die Schüler gedacht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich habe immer versucht, den Geschichtsunterricht für sie möglichst interessant zu gestalten. Dabei bin ich vor allem von mir selbst ausgegangen. Ich habe keine Versuche unternommen, mich mit abgedroschenen, allgemein beliebten Geschichten bei ihnen einzuschmeicheln. Ich habe mich an mich selbst

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