Angerichtet
Geburt war fürchterlich gewesen. In den ersten Jahren nach Michels Geburt hatte Claire nichts von einer weiteren Schwangerschaft hören wollen, aber in der letzten Zeit hatten wir das Thema doch ab und zu wieder angesprochen. Wir wussten beide genau, dass wir uns bald entscheiden mussten, sonst würde der Altersunterschied zwischen Michel und seinem Bruder oder seiner Schwester zu groß sein – wenn er das nicht bereits schon war.
»Ob das eigene Kind die Krankheit von einem geerbt hat, lässt sich also mit einem solchen Test nachweisen?«, fragte ich; meine Lippen waren trockener als ein paar Minuten zuvor, merkte ich, und ich musste sie erst mit der Zungenspitze befeuchten, bevor ich normal weitersprechen konnte.
»Also, da muss ich mich vielleicht etwas korrigieren. Ich habe eben zwar gesagt, dass die Krankheit bereits im Fruchtwasser festgestellt werden kann, aber ganz so ist es nicht. Es ist höchstens umgekehrt möglich. Mit einer Fruchtwasseruntersuchung können wir nachweisen, dass etwas nicht stimmt, aber was genau, das zeigt sich dann erst durch weitere Untersuchungen.«
Inzwischen war es eine Krankheit geworden, stellte ich fest. Wir hatten mit einer Abweichung angefangen, um dann über ein Leiden und ein Syndrom schließlich bei einer Krankheit anzukommen.
»Und das ist ausreichend für eine Abtreibung«, fragte ich. »Auch ohne weitere Untersuchungen?«
»Man muss das so sehen: Zum Beispiel beim Downsyndrom oder dem sogenannten offenen Rücken gibt es deutliche Anzeichen im Fruchtwasser. In solchen Fällen raten wir dazu, die Schwangerschaft abzubrechen. Bei dieser Krankheit hier bewegen wir uns aber eher im Halbdunkeln. Doch wir warnen die Eltern immer. In der Praxis entscheiden sich die meisten gegen ein Risiko.«
Van Dieren war dazu übergegangen, die Wir-Form zu verwenden. Als würde er die ganze Schar der Mediziner vertreten. Aber er war nur ein einfacher Psychologe. Und dann noch ein Schulpsychologe. Tiefer konnte man nicht sinken.
Hatte Claire eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen? Es war ärgerlich, dass ich es nicht wusste. Fast überall war ich mit hingegangen: zur ersten Ultraschalluntersuchung, zur ersten Schwangerschaftsgymnastikstunde – allerdings nur zur ersten Stunde, zum Glück fand Claire es noch lächerlicher als ich, dass der Mann mitschnaufen und hecheln sollte –, zum ersten Besuch in der Hebammenpraxis, der zugleich auch der letzte war. »An mich lasse ich keine Hebammen heran!«, sagte sie.
Aber Claire war auch ein paar Mal alleine ins Krankenhaus gegangen. Sie fand es Quatsch, dass ich einen halben Arbeitstag dafür opfern sollte, sie zu einer Routineuntersuchung bei ihrem Gynäkologen im Krankenhaus zu begleiten, sagte sie.
Fast hätte ich Van Dieren gefragt, ob bei allen schwangeren Frauen eine Fruchtwasseruntersuchung gemacht wurde oder nur bei bestimmten Risikogruppen, doch ich schluckte meine Fragen schnell wieder hinunter.
»Hat es vor dreißig oder vierzig Jahren auch schon Fruchtwasseruntersuchungen gegeben?«, fragte ich.
Der Schulpsychologe überlegte kurz. »Ich glaube nicht. Nein, jetzt wo Sie es sagen. Eigentlich bin ich mir da hundertprozentig sicher. Damals wurde das noch nicht gemacht, nein.«
Wir sahen uns an, und in diesem Moment wusste ich, dass Van Dieren an dasselbe dachte wie ich.
Aber er sagte es nicht. Wahrscheinlich traute er es sich nicht zu sagen, deshalb sprach ich es aus.
»Also habe ich es eigentlich dem damals noch nicht so weit entwickelten Stand der Wissenschaft zu verdanken, dass ich hier heute vor Ihnen sitze?«, sagte ich. »Dass es mich gibt«, fügte ich hinzu; das war zwar eine überflüssige Ergänzung, aber ich hatte einfach Lust, sie laut ausgesprochen aus meinem eigenen Mund zu hören.
Van Dieren nickte langsam mit dem Kopf, ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Wenn Sie es so betrachten«, sagte er. »Wenn es diese Untersuchung schon damals gegeben hätte, wäre es vielleicht nicht ganz undenkbar, dass Ihre Eltern auf Nummer sicher gegangen wären.«
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32
Ich nahm die Medikamente ein. Während der ersten Tage passierte nichts. Aber so stand es auch auf dem Beipackzettel, der Effekt würde sich erst nach ein paar Wochen zeigen. Und dennoch entging es mir nicht, dass Claire mich bereits nach den ersten Tagen anders ansah.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie mich mehrmals am Tag. »Gut«, antwortete ich dann immer. Und das war nicht gelogen, ich fühlte mich wirklich gut, ich genoss die
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