Angerichtet
Rettungswagen ohne große Eile abführe?, überlegte ich. Ohne Blaulicht? Ich atmete tief ein und langsam wieder aus. Ich musste jetzt schnell entscheiden, sonst war es zu spät. Ich könnte ihn totschlagen. Mit den nackten Fäusten. Das war zwar eine ziemlich eklige Angelegenheit, aber auch nicht viel ekliger als das Ausnehmen von einem Stück Wild. Einem Truthahn, verbesserte ich mich selbst. Er war verheiratet, wusste ich, und hatte schon etwas größere Kinder. Wer weiß, vielleicht würde ich ihnen einen Dienst erweisen. Es war sehr gut möglich, dass sie das graue Gesicht nicht mehr ertragen konnten. Auf dem Begräbnis würden sie noch ihre Trauer zeigen, aber danach, beim Leichenschmaus mit Streuselkuchen, würde die Erleichterung schon bald die Oberhand gewinnen.
»Paul?«
Ich sah den Rektor an. Ich lächelte.
»Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«, fragte er. »Ich dachte, vielleicht gibt es da was … Ich meine, also ich frage es jetzt einfach mal. Wie läuft es zu Hause, Paul? Alles in Ordnung dort?«
Zu Hause. Ich lächelte weiter, unterdessen dachte ich jedoch an Michel. Michel war fast vier. Für Totschlag bekam man in den Niederlanden acht oder zehn Jahre, schätzte ich. So viel war das gar nicht. Bei guter Führung und mit ein wenig Gefängnisgarten jäten war man in fünf Jahren wahrscheinlich wieder draußen. Dann wäre Michel neun.
»Wie geht es deiner Frau … Carla?«
Claire, korrigierte ich den Rektor in Gedanken. Sie heißt Claire.
»Ausgezeichnet«, antwortete ich.
»Und mit den Kindern? Auch alles in Ordnung?«
Den Kindern. Noch nicht einmal das hatte dieser Arsch sich merken können! Es war auch unmöglich, sich von jedem alles zu merken. Dass die Französischlehrerin mit einer Freundin zusammenlebte, das behielt man ja noch. Weil es sich abhob. Aber der Rest? Der Rest hob sich nicht ab. Die hatten einen Mann oder eine Frau und Kinder. Oder keine Kinder. Oder ein Kind. Michel fuhr auf einem Fahrrädchen mit Stützrädern. Den Moment, wenn die Stützräder abmontiert werden könnten, würde ich im Gefängnis nicht miterleben. Nur erzählt bekommen.
»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Manchmal ist man wirklich überrascht, wie schnell das alles geht. Wie schnell sie groß werden.«
Der Rektor verschränkte die Finger und legte die Hände auf den Schreibtisch, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er soeben nur mit knapper Not davongekommen war.
Für Michel. Für Michel würde ich die Finger von ihm lassen.
»Paul, ich weiß, dass du das jetzt vielleicht nicht hören möchtest, aber ich muss es dennoch sagen. Ich hielte es für ratsam, wenn du dir einmal einen Termin bei Van Dieren holen würdest. Beim Schulpsychologen. Und dass du zudem für eine Weile nicht unterrichtest. Damit du dich wieder richtigerholst. Ich glaube, dass du das brauchst. Das brauchen wir ab und zu alle.«
Ich fühlte mich ungewöhnlich ruhig. Ruhig und müde. Es würde nicht zu Gewalt kommen. Es war wie ein aufziehender Sturm, die Stühle auf der Terrasse werden hereingeholt, die Markisen werden zusammengerollt, aber ansonsten passiert nichts. Der Sturm zieht vorüber. Zugleich ist das aber auch schade. Wir sehen doch alle lieber, wie die Dächer von den Häusern gezerrt, wie Bäume entwurzelt und in die Luft geschleudert werden, Dokumentationen über Tornados, Orkane und Tsunamis verströmen etwas Beruhigendes. Na klar, es ist schrecklich, wir haben alle gelernt, dass man sagt, wie schrecklich das ist, doch eine Welt ohne Unglück und Gewalt – Naturgewalt oder menschliche Gewalt – wäre erst recht vollkommen unerträglich.
Der Rektor wird gleich unversehrt nach Hause gehen. Heute Abend wird er mit seiner Frau und den Kindern am Tisch sitzen. Seine nichtssagende Existenz wird sich auf den Stuhl setzen, der sonst leer geblieben wäre. Niemand müsste auf die Intensivstation oder in die Trauerhalle, aus dem einfachen Grund, weil das gerade so entschieden worden war.
Eigentlich hatte ich es bereits von Anfang an gewusst. Von dem Moment an, als er die Fragen über zu Hause gestellt hatte. Wie läuft es zu Hause? Das ist eine andere Art, dir zu sagen, dass sie dich loswerden wollen. Ungefähr wie »Hat es geschmeckt?«. Auch das geht niemanden etwas an.
Der Rektor sah ehrlich überrascht aus, als ich ohne weitere Diskussionen zustimmte, zum Schulpsychologen zu gehen. Freudig überrascht. Nein, ich würde ihm keinen Anlass zu einem Skandal bieten, ich würde mich widerstandslos fügen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher