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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Claire und an Michel. An den immer größer werdenden Abstand. Ich sah meine Frau mit unserem Sohn an der Eingangstür des Kindergartens, den Fahrradsitz, in den sie Michel hineinhob, und dann ihre Hand mit dem Haustürschlüssel im Schloss unserer Haustür.
    Als der Zug deutsches Gebiet erreicht hatte, war ich bereitsmehrmals zum Speisewagen gelaufen, um mir ein Bier zu holen. Aber es war bereits zu spät. Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab.
    In diesem Moment sah ich die Häuser und die Gärten. Überall gibt es Menschen, dachte ich. Es gibt so viele, dass sie ihre Häuser sogar bis an die Gleise bauen.
    Aus meinem Hotelzimmer rief ich Claire an. Ich versuchte meine Stimme normal klingen zu lassen.
    »Was ist los?«, fragte Claire sofort. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    »Wie geht es Michel?«
    »Gut. Er hat im Kindergarten einen Elefanten aus Ton gebastelt. Aber vielleicht will er dir das selbst erzählen. Michel, hier ist Papa am Telefon …«
    Nein, wollte ich sagen. Nein.
    »Papa …«
    »Hallo, mein Lieber. Was hat Mama mir erzählt? Du hast einen Elefanten gebastelt?«
    »Papa?«
    Ich musste irgendetwas sagen, aber es kam nichts.
    »Bist du erkältet, Papa?«
    In den darauffolgenden Tagen gab ich mir alle Mühe, den interessierten Touristen zu mimen. Ich spazierte an den Resten der Berliner Mauer entlang, aß in Restaurants, in die laut Reiseführer ausschließlich normale Berliner gingen. Die Abende waren am schlimmsten. Ich stand am Fenster meines Hotelzimmers und sah auf den Verkehr und die tausend Lichter und die Leute, die alle irgendwohin unterwegs zu sein schienen.
    Ich hatte zwei Möglichkeiten zur Auswahl: entweder ich blieb am Fenster stehen und schaute, oder ich mischte mich unter die Menschen. Ich konnte so tun, als sei auch ich auf dem Weg irgendwohin.
    »Wie war’s?«, fragte Claire, als ich sie nach einer Woche wieder an mich drückte. Ich drückte fester, als ich es vorgehabt hatte. Aber andererseits drückte ich nicht fest genug.
    Ein paar Tage später fing es auch in der Schule an. Anfangs hatte ich noch geglaubt, es hinge damit zusammen, dass ich weit weg gewesen war.
    Aber es war etwas passiert und dieses Etwas hatte ich nun mit nach Hause genommen.
    »Man könnte sich einmal die Frage stellen, wie viele Menschen es gäbe, wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte«, sagte ich und schrieb die Zahl 55 000 000 an die Tafel. »Wenn sie alle einfach weiter fleißig Kinder produziert hätten. Rechnet das mal bis zur nächsten Stunde aus.«
    Mir war durchaus bewusst, dass mich mehr Schüler als sonst anstarrten, vielleicht guckten sie mich sogar alle an: auf die Tafel und dann wieder zurück zu mir. Ich grinste. Ich sah hinaus. Die Luftzufuhr im Schulgebäude wurde zentral geregelt. Die Fenster konnten nicht geöffnet werden. »Ich geh mal kurz an die frische Luft«, sagte ich und verließ das Klassenzimmer.

[Menü]
    30
    Ich weiß nicht, ob sich damals bereits Schüler direkt beklagten oder ob die Beschwerden erst mit einem Umweg über die Eltern beim Rektor gelandet waren. Wie dem auch sei, eines Tages wurde ich ins Zimmer des Rektors einbestellt.
    Der Rektor war einer von der Sorte, wie man sie heute nur noch selten sieht: Seitenscheitel und brauner Anzug mit Fischgrätmuster.
    »Mir sind mehrere Beschwerden zu Ohren gekommen bezüglich Ihrer Gestaltung des Geschichtsunterrichts«, sagte er, nachdem ich auf dem einzigen Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch hatte Platz nehmen dürfen.
    »Von wem?«
    Der Rektor sah mich an. Hinter seinem Kopf hing eine Landkarte von den Niederlanden mit den dreizehn Provinzen.
    »Das spielt im Moment keine Rolle«, antwortete er. »Vielmehr geht es um …«
    »Und ob das eine Rolle spielt. Kommen die Beschwerden von den Eltern oder direkt von den Schülern? Eltern fangen schneller an sich zu beklagen, Schüler beschäftigen sich da weniger mit.«
    »Paul, es geht hier in erster Linie um das, was du über die Kriegsopfer gesagt hast. Du musst mich korrigieren, wenn ich es falsch wiedergebe. Über die Opfer des Zweiten Weltkriegs.«
    Ich lehnte mich zurück, vielmehr versuchte ich mich zurückzulehnen, doch der Stuhl hatte eine ziemlich harte und gerade Rückenlehne und gab kaum nach.
    »Du sollst ziemlich herablassend über die Opfer gesprochen haben«, sagte der Direktor. »Du sollst gesagt haben, sie seien selbst schuld an ihrem Opferdasein.«
    »So habe ich das nie ausgedrückt. Ich habe nur gesagt, dass nicht alle

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