Angriff auf die Freiheit
Theorie, die besagt, daß uns die Evolution dieses Mißverständnis antrainiert habe. Dem Überleben sei es dienlicher, das Risiko von Situationen falsch zu bewerten. Andernfalls würden wir nämlich in kein Auto mehr steigen und keine Treppe hinuntergehen. Um lebensfähig zu bleiben, ist es wichtig, »kein Gefühl« für Wahrscheinlichkeiten zu haben, jedenfalls kein zutreffendes.
Diese Unfähigkeit kann man leicht am eigenen Leib überprüfen. Sie sind auf einer Party mit gut vierzig Gästen. Wie hoch, glauben Sie, liegt die Wahrscheinlichkeit, daß zwei dieser Personen am gleichen Tag Geburtstag haben? Zehn Prozent? Oder nur fünf? – Sie liegt bei 90 Prozent, weshalb sich eine Wette auf diesen Umstand lohnen würde. Das hätten Sie nie gedacht? Eben. Wie hoch liegt seit dem 11. September die Wahrscheinlichkeit, daß Sie Opfer eines Terroranschlags werden? 0,01 Prozent? Weniger? Mehr? Selbst wenn wir davon ausgingen, die »Kofferbomber von Köln« hätten Erfolg gehabt, bedroht Sie das mit einem Risiko von eins zu vier Millionen. Rund siebenmal wahrscheinlicher ist es, als Kind zu ertrinken. Natürlich kommt trotzdem niemand auf die Idee, Schwimmbäder oder Badeteiche zu verbieten. Aber 76 Prozent der Deutschen geben an, daß sie Angst haben, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden.
Mut, Courage, Contenance sind Werte, die jede menschliche Gesellschaft hochhält – manchmal mehr, manchmal weniger. Wo gilt der Feigling schon als Vorbild? Betrachten wir unsere Sprache. Deftig wird verspottet, wem es an Mut fehlt: Angsthase Duckmäuser Drückeberger Pantoffelheld Jämmerling Bangbüchse Ausreißer Hasenfuß Kriecher Leisetreter Memme Schlappschwanz Waschlappen Jammerlappen. Keine Frage, wir schätzen den Mut, und das aus gutem Grund. Die Angst ist – im Gegensatz zur nützlichen Vorsicht – eine der größten Geißeln des Menschen. Hat sie sich einmal eingenistet, beginnt sie zu wuchern, lähmt uns, läßt sich durch kein vernünftiges Wort und keine passende Geste eindämmen. Wer jemals einen Menschen gesehen hat, der in Panik gerät, weil ihm ein giftiges Insekt über den Fuß kriecht, der weiß, daß wir aus Angst – gegen die eigenen Interessen – um uns schlagen und uns dadurch nur um so mehr gefährden.
Die scheinbar unübersichtliche und unverständliche Gegenwart, nicht zuletzt ihre technologischen Innovationen, tragen zu einem Gefühl der Verängstigung bei, das paradoxerweise durch ein Mehr an Technik und Entmündigung gelindert werden soll. Ein typisches Beispiel, wie der Teufel mit Hilfe des Beelzebubs ausgetrieben wird. Das Gefühl der Unsicherheit existiert losgelöst von tatsächlichen Bedrohungen. Die Bewohner von Kairo oder Bombay äußern weniger Ängste als jene von Hannover oder Basel, gerade weil sie davon ausgehen, daß das Leben kein Geländer hat, und weil sie insofern weder Rückversicherung noch Risikobeseitigung erwarten.
Wer etwas annähernd Objektives über unsere Sicherheit erfahren möchte, sollte nicht den staatlichen Sicherheitsexperten oder den medialen Angstprofiteuren zuhören, sondern lieber einen Blick in die Statistiken werfen. Er wird erkennen, daß Deutschland von Jahr zu Jahr sicherer wird, was nicht an Schäubles Anstrengungen liegt, sondern an der verbesserten Technologie von Autos und der stetigen Abnahme von Delikten. Natürlich können wir nicht wissen, was die Zukunft bringt. Solange der Trend aber ein positiver ist, besteht wahrlich kein Anlaß für den aussichtslosen Versuch, Bollwerke gegen eine unbekannte Zukunft zu errichten. Konkrete Beispiele beweisen, daß gesellschaftliche Strategien der Verständigung, der Integration, des sozialen Ausgleichs und der Bildung keineswegs versagt haben, wie die Verunsicherungspropheten verkünden. Vielmehr sind die Erfolge dieser Strategien zum einzig wahren Fundament unserer Sicherheit geworden. Alle rationalen Argumente sprechen dafür, Kurs zu halten und den Weg der Vernunft nicht zu verlassen. Um mit Karl Popper zu sprechen: »Wir müssen für Frieden sorgen und nicht für die Sicherheit, einzig aus dem Grund, weil nur der Frieden Sicherheit sicher machen kann.«
Anmerkungen zu diesem Kapitel
Fünftes Kapitel: Gesetze ohne Sinn und Verstand
Die Lage ist ernst. Terroristen stehen vor der Tür – sie wollen alles zerstören, was uns lieb und teuer ist. Wer wird nicht laut nach Gegenmaßnahmen rufen? Es muß doch etwas zu unserem Schutz getan werden! Und zwar schnell und sofort. Wir rasen auf einen
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