Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
Vom Netzwerk:
Das Einzige, was Ruth hörte, war ihr eigener Atem. Ja, sie war derart aufgeregt, dass es sie Überwindung kostete, weiter auf allen vieren zu kriechen und nicht stattdessen zu dem kurzen Gang an der anderen Seite der Kammer zu sprinten. Das Gold war dort, in einer kleinen Nische, und wartete auf sie, unberührt seit der Zeit, als die völlig erschöpften Soldaten den Schatz hierhergeschleppt und die Karte gezeichnet hatten, um eines Tages zurückzufinden. Allerdings war das keinem von ihnen gelungen.
    Ruth bewegte sich weiterhin auf Händen und Füßen voran. Gelegentlich hob sie den Kopf, damit der Schein der Stirnlampe geradeaus nach vorne leuchtete. Es kam ihr vor, als sei sie schon lange gekrochen.
    Zu lange.
    Auf einmal fühlte sie sich desorientiert und spürte erneut jene seltsame Schwere in ihren Armen und Beinen. Sie hielt inne, nahm die Taschenlampe zur Hand und warf einen Blick auf die Karte. Aber sie war kaum imstande, sie zu lesen, und fragte sich, warum. Immerhin wusste sie auswendig, dass es neun Meter bis zur gegenüberliegenden Wand waren, doch aus einem unerfindlichen Grund konnte ihr Gehirn diese Information nicht richtig verarbeiten. Auf jeden Fall war sie schon diese neun Meter gekrochen. Sie hatte das Gefühl, bereits seit Stunden unterwegs zu sein. Nun ja, vielleicht war sie auch erst seit drei Minuten auf allen vieren. Ruth schaute auf ihre Armbanduhr. Es war Nachmittag, dreizehn nach zwei. Dann sah sie wieder auf die Karte, die greifbar und ebenso real wie sie selbst war, ihr Führer in die Unterwelt, ihr Führer zum Fluss Styx. Ruth stieß ein Lachen aus, das einen rauen, verzerrten Klang hatte. Woher war er gekommen? Sie versuchte sich zu konzentrieren. Sie war in einer Höhle, nicht mehr und nicht weniger. Die gegenüberliegende Wand befand sich ganz in der Nähe, das musste einfach so sein! Dort würde sie drei große Schritte nach rechts gehen und auf einen kleinen Gang stoßen ... Es war doch ein Gang, oder etwa nicht? Und der führte ...
    Da hörte sie etwas.
    Ruth erstarrte. Seit dem Moment, als sie das dürftige Schloss geknackt und ihren Abstieg in die Höhle begonnen hatte, hatte sie lediglich Fledermäuse und das Geräusch ihrer eigenen Stimme, ihres eigenen Atems vernommen. Aber jetzt hielt sie die Luft an. Ihr Mund war auf einmal genauso trocken wie der sandige Boden unter ihren Stiefeln. Angespannt lauschte sie in die Dunkelheit.
    Die Stille war vollkommen, ebenso undurchdringlich wie die Schwärze um sie her.
    Gut, dann war es eben still. Stille war beruhigend. Ruth war allein, und es gab keine Monster, die von der Decke herabhingen. Sie drehte grundlos durch, sie, die sich immer viel auf ihre Selbstbeherrschung zugutegehalten hatte. Doch warum konnte sie keine Felswand sehen?
    Ein Meter entsprach ungefähr einem langen Schritt, und sie begann zu zählen. Als sie etwa vier Meter zurückgelegt hatte, hielt sie inne und streckte die Hand so weit wie möglich aus. Ihre Taschenlampe und die Stirnlampe durchschnitten die Dunkelheit. Keine Wand. Nun gut, dann hatte sie sich eben in der Entfernung vertan. Kein Problem, kein Grund zur Panik.
    Aber sie hatte ganz sicher etwas gehört - wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Was war das für ein Geräusch gewesen?
    Sie zählte und kroch weiter. Mindestens sechs Meter. Himmel, war das lächerlich. Wo war diese Wand ?
    Ruth erhob sich und leuchtete mit den Lampen einmal um sich herum. Sie zog erneut den Kompass hervor und starrte auf die Nadel. Westen. Nein, das konnte nicht sein! Sie hatte sich nicht nach Westen bewegt, sondern nach Osten, auf die gegenüberliegende Wand zu. Doch es gab in keiner Richtung ein Anzeichen für eine Wand. Sie schüttelte den Kompass. Noch immer zeigte er Westen an. Offensichtlich war er kaputt.
    Sie stopfte ihn zurück in die Tasche und riss das Sieben-Meter-Rollmaßband von ihrem Gürtel. Langsam fuhr sie das Metallband in einer geraden Linie vor sich aus, hinein in die Dunkelheit. Schließlich war das Ende des Maßbands erreicht. Keine Wand.
    Maßlose Angst kroch ihr den Nacken hoch und ließ sie versteinern. Was zum Teufel war nur los mit ihr? Sie war ein Cop, verdammt noch mal, und schon in viel gefährlicheren Situationen als dieser gewesen. Sie hatte sich immer etwas auf ihren Scharfsinn und ihren gesunden Menschenverstand eingebildet, auf die Fähigkeit, ihre Panik unter Kontrolle zu halten. Nichts könne sie erschüttern, hatte ihre Mutter immer behauptet, was allerdings nicht unbedingt als

Weitere Kostenlose Bücher