Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
Vom Netzwerk:
Öffnung. Ruth erblickte nichts als den Boden. Sie löste eine der Taschenlampen von ihrem Gürtel und richtete ihren Schein zusammen mit dem der Stirnlampe erst geradeaus, dann langsam nach rechts und schließlich nach links. Das Licht verlor sich in der endlosen Dunkelheit, ohne reflektiert zu werden.
    Sie zog den Kopf zurück und ging in die Hocke. Die Männer, die das Gold versteckt hatten, mussten eine Sandsteinplatte aus einem anderen Teil der Höhle herausgehauen und an dieser Stelle eingesetzt haben, um den niedrigen Eingang zu der Schatzkammer besser zu verbergen. Ruth war so aufgeregt, dass ihre Fingerspitzen einen Freudentanz aufführten. Gleich hatte sie es geschafft! Sie schob den Arm durch die Öffnung, fühlte jedoch nichts außer dem glatten, schmutzigen Boden, der fest und trocken war. Es musste sich um die Kammer handeln, die auf der Schatzkarte hinter dem bogenförmigen Durchgang abgebildet war. Alles war so, wie es sein sollte. Die kostbare Karte, in einer modrigen Schachtel voller Bücher aus dem neunzehnten Jahrhundert versteckt, die Ruth einem alten Mann in Manassas abgekauft hatte, war also nicht erst zwei Wochen zuvor in einem Hinterzimmer in Newark angefertigt und in diesem Behälter deponiert worden. Und jetzt los, Ruth! Das Loch war sehr schmal, doch nachdem sie erst einmal die Schultern hindurchgezwängt hatte, war der Rest nicht mehr schwierig.
    Auf der anderen Seite schwang sie die Beine nach vorne, nahm die Taschenlampe in die Hand und leuchtete zusammen mit der Stirnlampe den Raum ab. Laut Karte war die Kammer recht geräumig, etwa neun Meter breit und zwölf Meter lang. Allerdings konnte sie die gegenüberliegende Wand nicht sehen, sie konnte überhaupt nichts sehen!
    Ruth holte ihren Kompass hervor. Ja, die Wand gegenüber lag genau östlich. Alles war dort, wo es sein sollte. In diesem Augenblick fiel ihr auf, dass die Luft weder abgestanden noch faulig roch, was man eigentlich bei einer Höhle erwarten würde, die seit hundertfünfzig Jahren versiegelt war. Die Luft, die sie hier einatmete, war frischer als die in dem Hauptgang. Wenn das keine Überraschung war! Sie musste sich in der Nähe eines Ausgangs befinden, der nicht auf der Karte eingezeichnet war. Wie praktisch für die Männer, die das Gold versteckt hatten! Langsam erhob sie sich und blickte geradeaus. Es war, als stünde sie an einem dunklen Abgrund. Das hatte sie schon früher erlebt, doch mit einer Stirnlampe müsste man die angrenzende Wand sehen können, oder etwa nicht? Sie sog mehr von der wundervollen, frischen Luft in ihre Lungen. Da bemerkte sie einen leicht süßlichen Geruch, den sie nicht genau einordnen konnte. Für einen Moment verlor sie die Orientierung. Sie hielt inne und atmete ruhig und tief ein, während sie darauf wartete, dass sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete und die Welt zurechtgerückt wurde. Eine dumpfe Schwere legte sich über ihre Arme und Beine; kurz darauf war die Müdigkeit jedoch wieder verschwunden, und Ruth schien erneut klar denken zu können. Es war Zeit weiterzugehen. Sie machte einen Schritt vorwärts, wobei sie den Fuß ganz vorsichtig aufsetzte. Was hatte sie erwartet? Dass der Boden unter ihren Füßen nachgeben würde? Sie lachte laut auf, zum Beweis, dass sie es konnte. Ihre Stimme klang frisch und lebendig, ebenso klar wie die von Mrs Monroe, wenn sie Woodrow zurief, er solle die Arbeit beenden und hereinkommen. Welch seltsamer Gedanke!
    Ruth spürte ein altbekanntes Kitzeln an ihrem Hinterkopf - Aufregung gemischt mit Angst, stellte sie lächelnd fest. Oh Mann, war sie voll davon, ihr war sogar ein wenig schwindlig deswegen! Aber dumm war sie nicht. Sie hatte nicht vor, unbekümmert vorwärtszustürmen und kurz vor der Ziellinie in ein Loch zu fallen. Sie musste clever sein, wie Indiana Jones. Sie musste auf Stolperdrähte und versteckte Fallen achten. Also, das war nun wirklich ein merkwürdiger Gedanke! Auf einmal überkam sie ein Schwindelgefühl, das sie taumeln ließ. Sie ging in die Knie, legte die Taschenlampe vor sich hin und fuhr mit den Handflächen über den Boden, der auch hier glatt und sandig war. Er schien jedoch ein wenig vor ihren Augen zu verschwimmen, sobald sie sich ihm näherte. Wenigstens gab es keine alten, knorrigen Kletterpflanzen in der Kammer, die Giftpfeile durch die Luft schwirren ließen oder mit altertümlichen Gewehren auf einen Eindringling geschossen hätten. Doch solche Waffen würden wahrscheinlich ohnehin nicht mehr funktionieren.

Weitere Kostenlose Bücher