Angst (German Edition)
mich in einen kurzen Tod schickt. Ich kann nicht genau sagen, was diese Explosionen auslöst, meist sind es seltsame Kleinigkeiten. Zum Beispiel habe ich einmal angekündigt, dass ich eine Dienstreise nach München am Abend des ersten Januar antreten würde, weil ich früh am Morgen des nächsten Tages einen Termin hatte. Mir war nicht bewusst, dass dies ein Problem sein könnte, da der erste Januar familiär und kommunikativ ein verlorener Tag ist, man hält seinen Kater aus, schaut das Neujahrsspringen im Fernsehen, fragt sich, ob man die guten Vorsätze wirklich umsetzen soll, und geht früh zu Bett. Am ersten Januar ist jeder so verschwiegen und mit sich selbst beschäftigt wie ich an nahezu allen Tagen des Jahres. Aber als Rebecca von meinem Plan erfuhr, schrie sie mich an, wie ich dazu käme, an diesem Feiertag meine Familie im Stich zu lassen, ob es denn überhaupt keine Grenzen mehr gebe. Ich wollte sie beruhigen, indem ich ihr das schlaffe Wesen dieses Tages in Erinnerung rief, aber an ihrem Gesicht, an ihrer Haltung sah ich schon, dass dies vergeblich sein würde. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und schrie und schrie, die Augen groß, die Haut dunkel, die Adern prangten dick an ihrem Hals. Ihr Arm war ausgestreckt, der Zeigefinger auf mich gerichtet, wie ein Speer. Ich muss zugeben, dass mich diese Anfälle komplett aus der Bahn werfen. Ich erstarre, meine Muskeln ziehen sich zusammen, nur das Herz schlägt wüst, und mein Kopf fühlt sich an, als wolle das Gehirn herausquellen. Ich habe, fürchte ich, Angst in diesen Momenten, ich will fliehen, kann mich aber nicht bewegen, will etwas sagen, kann aber nicht sprechen, bin ein Stein mit einer rasenden Mitte.
Rebecca wird ihrer Wut nur durch Zerstörung Herr, sie schmeißt ein Glas auf den Boden, einen Teller gegen die Wand. Früher nahm sie Apfelsinen aus den Obstschalen in der Küche oder im Wohnzimmer und feuerte sie so hart gegen die Wand, dass sie zerplatzten. Das war alles in allem die teuerste Variante, weil wir es schön haben wollen bei uns zu Hause und die Tapeten oder den Anstrich von Fachleuten ausbessern ließen. Wir kaufen deshalb keine Apfelsinen mehr. Sobald Rebecca etwas zerstört hat, beruhigt sie sich und nimmt mich in den Arm, liebevoll und fest zugleich, tut mir leid, flüstert sie in mein Ohr und streicht mir über den Kopf. Ich schaffe es nur langsam, mich aus meiner Verkrampfung zu lösen. Dann sage ich, dass es schon verziehen sei, und sammle mit ihr die Scherben ein. Diese Anfälle kommen nicht oft vor, vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr. Wir haben hin und wieder darüber gesprochen, Rebecca weiß auch nicht, was ihr da geschieht, und sie weiß nicht, wie sie es vermeiden kann. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich das aushalten muss. Kannst du das, hat sie mich gefragt. Natürlich, habe ich gesagt und sie geküsst, aber ich will hier nicht verhehlen, dass ich manchmal angespannt bin, wenn ich bei meiner Frau sitze und nicht die reine Harmonie herrscht, oder dass ich mich in besonderer Weise liebenswürdig zeige, um ja nicht einen Anfall auszulösen. Ich mag mich dann nicht besonders.
Ihre Anfälle treiben mich von ihr weg, sagte ich zu meinem kleinen Bruder, als wir zusammen an der Theke vom Blum standen, einer kleinen, alten Bar in der Nähe des Winterfeldtplatzes. Wir gehen da immer hin, wenn er in Berlin ist. Es liegt nicht an ihr, sondern an dir, sagte er. Aber warum muss sie mich so attackieren, fragte ich. Weil du sie verhungern lässt. Nein, gab ich zurück, würde sie mich nicht so attackieren, würde ich sie nicht verhungern lassen. Hör auf, sagte mein kleiner Bruder, sei einfach mal nicht verschwunden. Ich, trotzig: Ich bin doch gar nicht verschwunden. Bist du doch, sagte er, früher war es genauso, wir saßen mit Mama am Tisch und haben gespielt, und du warst verschwunden. Weil unser Vater so schlechte Stimmung verbreitet hat, sagte ich. Dann sagte mein Bruder den Satz, den ich nicht ertragen kann: Du bist genau wie er. Dieser Satz stimmt nicht, und wenn er denn stimmte, würde ich nicht darauf hingewiesen werden wollen. Ich stieß meinem kleinen Bruder mit der flachen Hand gegen die Schulter, nicht sehr hart, aber auch nicht weich. Er machte das Gleiche mit mir, etwas härter allerdings. Mein Negroni, den ich in der linken Hand hielt, schwappte auf meine Hose. Ich stellte ihn ab, sprang auf und zog meinen kleinen Bruder vom Hocker, zwei Knöpfe platzten von seinem Hemd ab. Wir rangen, aber nur kurz, weil sich der
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