Angst (German Edition)
Tiberius war inzwischen bei ihr gewesen, um sich zu entschuldigen, tausendmal. Er wisse auch nicht, wie er auf diesen Unsinn gekommen sei, er habe manchmal «Aussetzer», das liege wohl an seiner Zeit im Heim. Er wolle nichts anderes als gute Nachbarschaft, und er werde sich in Zukunft auch so verhalten, ganz bestimmt. Ob ich trotzdem mit ihm reden solle, fragte ich meine Frau, ein weiterer Fehler. Ich hätte diese Entscheidung nicht ihr überlassen dürfen. Sie war entladen durch ihren Ausbruch, versöhnt durch das Gespräch und die vielen Entschuldigungen des Herrn Tiberius. Sie hatte die Hoffnung, dass er geläutert war. Ich übernahm diese Hoffnung leichtfertig, statt nach unten zu gehen.
In den fünf Wochen danach passierte nichts. Wir sahen uns bestätigt. Wir hatten diese unangenehme Geschichte auf vernünftige Weise aus der Welt geschaffen. Herr Tiberius zeigte sich nicht mehr, hinterlegte keine Speisen oder Bücher für meine Frau. Manchmal hörten wir die Synchronstimme von Dustin Hoffman, manchmal die Toilettenspülung.
Am 15. April jenes Jahres bin ich zu einer Hochzeit nach Bali geflogen, über Frankfurt und Singapur. Ich reiste allein, ohne meine Frau und meine Kinder. Wir waren uns nach einem kurzen Gespräch einig, dass eine Fünf-Tages-Reise mit zwei Vierzehn-Stunden-Flügen zu anstrengend sei für kleine Kinder, zumal bei einer Zeitverschiebung von sechs Stunden. Ich muss aber zugeben, dass es mir ganz recht war so. Wir hätten das mit Paul und Fee sicherlich hinbekommen können, aber ich wollte das gar nicht, und wenn ich mich richtig erinnere, war ich derjenige, der zuerst gesagt hat, dass wir unseren Kindern eine solche Reise nicht zumuten können. Rebecca ist meiner Ansicht gefolgt.
Ich muss hier ein paar Worte über unsere Ehe verlieren, wie sie damals war, als wir in diesen Strudel gerieten. Unsere Ehe war in einem schwierigen Zustand, um es vorsichtig auszudrücken, und ich fürchte, dass dies vor allem an mir lag. Es gab keine Zerrüttung im engeren Sinn, keine endlosen Streitereien, kein Türeschlagen, kein Davonlaufen, keinen Hass, nein, nichts davon, es war einfach so, dass ich mich mit den Jahren aus dieser Ehe zurückgezogen hatte. Ich meine damit nicht die Kinder, ich bin ein Vater, der seine Kinder abgöttisch liebt, der mit ihnen spielt, mit ihnen redet, der nie glücklicher ist als mit seinen Kindern. Ich meine die Ehe, das Verhältnis zu meiner Frau. Ich weiß nicht, wie es begann, man weiß nie, wie es beginnt, denke ich, außer wenn eine Bombe platzt, eine Affäre auffliegt oder etwas Ähnliches, aber das war es nicht bei uns. Am besten kann man es wohl so ausdrücken: dass ich mich aus meiner Ehe hinausgeschlichen habe, in einem langen Prozess. Ich habe oft versucht, mich zu erinnern, wann mir klar wurde, dass etwas nicht stimmte, dass die Antwort auf die Frage nach dem Zustand der Ehe nicht mehr deren Wirklichkeit entsprach. Die Antwort ist ja meistens «gut» oder «alles bestens», dazu ein optimistisches Lächeln. Das habe auch ich gesagt, obwohl es längst nicht mehr stimmte.
Bei meiner Suche nach dem ersten Moment einer Ehrlichkeit mit mir selbst kam ich auf einen Abend im Restaurant Hedin, einem der wirklich guten Restaurants dieser Stadt, es hat einen Stern von Michelin und achtzehn Punkte im Gault-Millau. Ringsum an den Tischen saßen Paare oder Gruppen und aßen festlich, weil einen ein Essen wie das vom Hedin sofort in festliche Stimmung versetzt, wenn man nicht schon in festlicher Stimmung hergekommen ist. Nur an einem der Tische saß ein Mann allein, und auch er aß in festlicher Stimmung, feierte ein Fest mit sich selbst, aß sechs Gänge, Seeigel mit Sichuanpfeffer und Ananas, dann Abalone, dann Wolfsbarsch mit Albatrüffel und zwanzig Jahre altem Reiswein, dann Rebhuhn mit chinesischem Honig und Rosenkohl, dann Diamond Label Beef mit Roter Beete und Périgord-Trüffel und zum Schluss Caramel au Beurre salé mit Passionsfrucht und japanischer Kastanie, dazu Weinbegleitung nach dem Geschmack des Sommeliers, und zwischen den Gängen zeichnete der Mann, der dort alleine saß, mit einem weichen Bleistift auf seinem Skizzenpapier. Er machte Entwürfe für ein Einfamilienhaus, warf sie mit leichter Hand hin und sah zufrieden aus dabei, glücklich sogar, und obwohl auf dem Stuhl gegenüber offenkundig ein Mensch fehlte, fehlte ihm nichts. Dieser Mann war ich. An jenem Abend war ich nur einmal in betrübter Stimmung, als ich daran dachte, dass es doch ein bisschen
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