Angst (German Edition)
Ich ging dann mit einem spöttischen Lächeln auf mein Zimmer. Aber mein Herz klopfte, und oben packte mich die Angst, er könne raufkommen und mich erschießen.
Ich wusste damals, mit fünfzehn oder sechzehn Jahren, dass mein Vater nicht Agent war, ich wusste auch, dass er nicht einfach Sportschütze, Jäger und Waffenliebhaber war. Er brauchte die Waffen, um sich zu schützen, er hatte Angst. Ich wusste nicht, wovor er Angst hatte, meines Erachtens gab es keinen Grund dafür. Er trieb sich nicht am Stuttgarter Platz im Rotlichtmilieu herum, er ging nicht einmal in normale Kneipen, wo er nach ein paar Bier hätte Streit bekommen können, er war fast immer zu Hause, wenn er nicht arbeiten war. Ich sah ihn sein Holster umschnallen und eine Waffe hineinschieben, bevor er mit meiner Mutter zum Einkaufen fuhr. Was machte ihm solche Angst? Und warum habe ich ihn nie danach gefragt? Heute würde ich meinen Vater so gerne fragen, aber ich kann ihn nicht fragen, wenn Herr Kottke dabei ist, und Herr Kottke ist naturgemäß immer dabei, wenn ich meinen Vater besuche.
Mir konnte damals nicht entgehen, dass mein Vater Waffen nicht nur hatte, um auf Scheiben zu schießen, er hatte sie auch, um auf Menschen zu schießen, in einer Notlage, denke ich, denn er war niemand, der andere angreift. Er nahm an Combat-Trainings teil, Kursen für Selbstverteidigung mit Handfeuerwaffen. Ich habe ihn zu Hause üben sehen, er trug ein Holster am Gürtel, warf ein Geldstück in die Luft und zog. Er schoss nicht, es ging darum, den Revolver gezogen zu haben, bevor die fünf Mark zu Boden gefallen waren. Mein kleiner Bruder sah ihm gerne dabei zu. Ich ging auf mein Zimmer, sobald diese Übungen begannen.
Bruno ist drei Jahre jünger als ich, im Foxweg lebten wir im selben Zimmer. Es gibt ein Foto, das ihn sitzend in einem großen Kinderwagen zeigt, er staunt in die Kamera. Am Griff des Kinderwagens stehe ich, der große Bruder. Ich habe ihn nicht sofort geliebt, weil ich Platz machen musste in meinem kleinen Zimmer und weil er als Baby oft schrie. Aber dann setzte ich ihn dafür ein, die Autos, die ich meine Fallerbahn hinuntergejagt hatte, einzusammeln und mir zu bringen. Dafür durfte er auch mal ein Auto losschicken. Ich habe ihn geliebt, bevor ich ein Wort dafür hatte, und ich liebe ihn immer noch, obwohl es manchmal schwierig ist mit ihm. Wenn wir zusammen bei Ford Marschewski waren, rannte er sofort in die Werkstatt, ein Ort, den ich nicht mochte, laut, dreckig, damals waren Werkstätten noch ölig, heute gleichen sie eher Elektrolabors. Sein größtes Glück war es, wenn ihn einer der Mechaniker ein paar Umdrehungen mit einem Schraubenzieher oder einem Engländer machen ließ. Ich setzte mich lieber in die neuen Autos und tat so, als würde ich fahren. Besonders mochte ich Autos mit Ledersitzen, weil sie innen so würzig rochen.
Mein Vater nahm meinen kleinen Bruder eine Weile auch mit zum Schießplatz, aber Bruno ist niemand, der sich in eine strenge Disziplin einfügt, und Disziplin, sagte mein Vater häufiger als nötig, ist auf dem Schießplatz das Wichtigste. Bruno jedoch fuchtelte mit der Waffe herum oder nervte Leute, die sich auf ihren nächsten Schuss konzentrieren wollten. Nachdem er auf einen Vogel geschossen hatte, beendete mein Vater seine Schützenkarriere. Nur meine Schwester schoss noch, sie wurde Berliner Vizemeisterin in irgendeiner Jugendklasse. Der Pokal stand in unserem Wohnzimmer, Bruno und ich machten Witze darüber, und das lag auch daran, dass es uns weh tat, Cornelias Schießkünste so gerühmt zu sehen. Ich weiß nicht, wie hart das für meinen Vater war, dass seine beiden Jungs nicht tauglich waren als Schützen, aber ich bin mir sicher, dass nicht nur ich enttäuscht war von ihm, sondern er auch von mir und meinem kleinen Bruder.
Eines Abends hörte ich einen Schuss, als ich auf meinem Bett lag und las. Ich rannte die Treppe runter, weil ich Angst hatte, dass mein Vater seinen jüngsten Sohn erschossen hatte. Nichts konnte ihn so aus der Fassung bringen wie Bruno, aber Bruno lebte, als ich ins Wohnzimmer kam. Er saß mit meiner Schwester und meiner Mutter am Esstisch, sie hatten Memory gespielt. Mein Vater trug sein Gürtelholster, er stand an der Terrassentür und betrachtete ein Loch in der Scheibe. Auf dem Boden lag ein Fünfmarkstück. Es hatte sich versehentlich ein Schuss gelöst, und wir hatten alle Glück, dass in jenem Moment niemand an unserem Haus vorbeigegangen ist. Als ich später wieder auf
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