Angst (German Edition)
Handtuch gewickelt in mein Zimmer kam, schaute ich in den Garten und sah Licht in dem Zelt, das himalayatauglich war. Jetzt war ich wütend und stürmte die Wendeltreppe hinauf unter das Dach, wo meine Schwester ihr Zimmer hatte. Sie war da, sie fragte unfreundlich, was ich wolle, wir verstanden uns nicht gut. Nichts, sagte ich barsch und ging wieder hinunter. Komm hier nicht rauf, rief mir Cornelia hinterher.
Meine Schwester ist seit einigen Jahren tot, und heute schmerzen mich diese Erinnerungen. Ein Foto von uns beiden steht in meinem Bücherregal, meine Mutter hat es mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt. Das Foto hat einen goldenen Rahmen, vielleicht zwölf mal zwölf Zentimeter, darin eine Glasscheibe und ein lila Passepartout mit einem goldfarbenen Blütenmuster. Das Foto ist klein, eine Miniatur, meine Schwester ist vielleicht vier Jahre alt, ich bin also drei. Sie hat Zöpfe und trägt ein kurzes Kleid, ich habe kurze Haare und trage eine kurze Hose. Wir halten uns an der Hand, meine Schwester ist mir einen halben Schritt voraus, sie schaut fröhlich, entschlossen, führt mich durchs Leben, ich folge in mich gekehrt. Das ist die Schwester, die ich nie hatte, sagte ich zu meiner Frau, als ich das Foto betrachtete. Vielleicht ist es die Schwester, die du damals hattest, sagte sie. Es war ein bestürzender Satz für mich. Ich hatte das so nie sehen können, in meiner Erinnerung war meine Schwester das Biest, mit dem ich um die Position der Nummer eins in den Kinderzimmern stritt. Wir haben uns dabei so weh getan, dass wir uns lange nicht mochten, bis wir zwanzig oder einundzwanzig waren, und dann mochten wir uns einigermaßen, fanden aber nie richtig zueinander, auch direkt vor ihrem Tod nicht mehr.
Ich war erleichtert, dass meine Schwester nicht mit meinem Vater in dem Zelt saß, dass sie nicht seine Gefährtin sein würde, und ich war traurig, dass das Gleiche für mich galt. Mein Vater würde die abenteuerlichen Reisen ohne mich machen. Ich konnte lange nicht einschlafen, stand immer wieder auf, stellte mich ans Fenster und sah hinunter in den Garten. Ich sah das Zelt von innen beleuchtet, ich sah den Schatten meines Vaters, der dort hockte und wahrscheinlich «auto motor und sport» las, in einem Hochleistungslicht, in dem man nachts bei Schneesturm auf siebentausendfünfhundert Metern den Weg zum Gipfel des Mount Everest finden würde. Später war es dunkel dort unten. Als ich am Morgen aufwachte und in den Garten sah, war das Zelt nicht mehr da. Ich habe es nie mehr gesehen. Mein Vater hat die abenteuerlichen Reisen nicht gemacht, auch alleine nicht. Er ist meines Wissens nie ohne seine Frau verreist, und das Weiteste, was sie geschafft haben, war der Gardasee in Norditalien, wo sie in einer Pension wohnten. Er war ein Träumer, der sich nicht viel getraut hat, der aber lange dachte, dass er sich trauen würde. Insofern war er doch ein Optimist.
Mein Vater war schon während meiner Kindheit manchmal aufbrausend oder unleidlich, aber während meiner Pubertät versank er für Tage in trüben Stimmungen, aus denen ihn auch meine Mutter nicht holen konnte. Er saß dann nur auf dem Sofa und brütete. Gleichzeitig war er dünnhäutig und explodierte, sobald er sich nur ein bisschen gestört fühlte. Musik konnten wir nur in Zimmerlautstärke hören, sonst bekamen wir zornigen Besuch. Mich hat das einmal den Tonabnehmer meines Plattenspielers gekostet. Mein Vater hatte ein Lied von Pink Floyd brutal beendet.
Ich will nicht behaupten, dass es nur an meinem Vater lag, dass wir so wenig miteinander redeten, dass er mich kaum noch beachtete. Ich glaube, die fatalste Entdeckung meiner Pubertät war, dass ich bei den Lehrern des Gymnasiums und auch bei meinen Freunden als intelligent galt. Meine Eltern sind nicht dumm, gewiss nicht, aber sie haben nicht studieren können, mein Vater ist durchs Abitur gefallen, meine Mutter hat nur die Volksschule besucht, weil sich ihre Eltern etwas anderes nicht leisten konnten. Ich fühlte mich bald intelligenter als meine Eltern und habe mich so verhalten, dass ihnen das nicht entgehen konnte, muss ich zu meiner Beschämung gestehen. Meine Mutter hat sich allen Debatten, die ich ihr aufzwang, tapfer gestellt, obwohl ich sie manchmal verhöhnt habe dabei. Sobald es beim Abendessen losging, stand mein Vater auf und setzte sich aufs Sofa. Er las oder putzte Waffen, und ich wusste, dass er zuhörte. Ich wusste auch, dass er nach einer Weile aufspringen und rumschreien würde.
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