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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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auch für euch. Ich konnte mir vorstellen, wie Bruno ihr das gesagt hatte, sicherlich nicht in diesem Ton und sicherlich nicht nur einmal, sondern immer wieder, immer aggressiver. So war er damals, und so ganz anders war ich auch nicht. Das ist aber kein Grund, jemanden halb totzuprügeln, sagte ich zu meiner Mutter. Euer Vater würde euch nicht halb totprügeln, sagte meine Mutter. Hat er doch, rief Bruno. Nun begann eines dieser Gespräche, die wir oft mit unserer Mutter geführt haben. Wir sagten, unser Vater sei schlimm, sie sagte, das sei nicht wahr. Sie hat ihn immer in Schutz genommen, wenn wir schlecht über ihn redeten. Aber sie hat uns in Schutz genommen, wenn er böse mit uns wurde. Das war ihre Rolle, Vermittlung, Besänftigung, Beschwichtigung. Sie tat das in einem ruhigen, beinahe gelassenen Ton, als wäre alles gar nicht so schlimm, als wäre alles ganz normal. Ich weiß nicht, ob sie das wirklich so gesehen hat. Möglich ist es. Wer als kleines Mädchen nachts durch das brennende Köln gelaufen ist, wer die Bomber, die Bomben und die Sirenen gehört hat, wer den Geruch von verbranntem Menschenfleisch kennt, wer offene Wunden sehen musste, abgerissene Gliedmaßen, der lebt womöglich in dem Gefühl, dass er das Schlimmste schon hinter sich hat, dass ein Familienstreit eine Kleinigkeit ist. Es kann aber auch sein, dass sie als Kind zu viel Unglück erlebt hat, ausgebombt, den Vater im Krieg verloren, dass sie weiteres Unglück nicht mehr ertragen kann und die Welt deshalb so sieht, als gebe es kein Unglück, egal, wie die Welt gerade ist. Dass sie sich die Welt immer als schöne Welt erzählt hat, selbst wenn es in ihrem Haus eine Menge Waffen gab und ihre Kinder von diesen Waffen bedroht waren. Und es kann sein, dass sie genau wusste, dass ihre Kinder von diesen Waffen überhaupt nicht bedroht waren, weil sie ihren Mann gut kennt. Ich weiß das nicht. Ich müsste sie das einmal fragen. Ich weiß nur, dass ich meine Mutter immer als gelassen erlebt habe. So war es auch an jenem Abend. Sie redete eine halbe Stunde mit uns, dann sagte sie gute Nacht, als stünde uns allen ein schöner, schwereloser Schlaf bevor, und ging nach unten zu ihrem Mann. Ich schloss die Tür wieder ab.
    Bruno und ich fuhren Rennen bis um Mitternacht. Dann trug ich Brunos Matratze in mein Zimmer und legte sie neben mein Bett. Ich hörte ihn bald ruhig atmen, während ich lange wach lag und darüber nachdachte, was ich tun würde, wenn mein Vater doch noch käme. Er hatte «Ich werde dich …» gesagt, und ich konnte das nur mit «erschießen» ergänzen, obwohl das sicher nicht gemeint war, aber das sage ich heute. Es war eine Eigenart meines Vaters, dass er unbestimmte Drohungen aussprach. Warte nur, sagte er, ich werde dich …, dann bist du dran. Das war in einem Haushalt wie dem unseren das Schlimmste, was man machen konnte. Alles schien möglich, selbst der tödliche Schuss. Obwohl ich keine Waffen besitze, habe ich daraus gelernt, dass ich meinen Kindern nicht unbestimmt drohen darf, sondern ihnen klar sage, was sie zu erwarten haben, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern, weiter mit dem Essen rummanschen oder den Hund mit Tennisbällen bewerfen, sodass er aufjault.
    Natürlich hatte ich mir längst Strategien überlegt, wie ich einer Kugel aus einer der Waffen meines Vaters entkommen könnte. Ich dachte daran, die Matratze aus meinem Bett gegen die Tür zu stellen, das würde die Kugeln vielleicht abfangen, aber sicher war ich mir da nicht. In jener Nacht hatten wir immerhin zwei Matratzen, das machte es besser. Aber natürlich konnte mein Vater das Schloss aufschießen, dann war er rasch bei uns. Wir müssten also, sobald wir ihn hörten, zum Fenster stürzen, ein Stück die Dachpfannen runterrutschen und uns so fallen lassen, dass wir mit den Füßen aufkämen. Die Frage war, ob mein kleiner Bruder zuerst rausklettern sollte oder ich. Es gab Vor- und Nachteile. Ginge ich zuerst, wäre er länger der Gefahr ausgesetzt, aber ich würde ihn unten auffangen können. Mir fiel es schwer, das zu entscheiden, am Ende dachte ich, dass es besser wäre, ihn zuerst fliehen zu lassen, er würde den Sprung wohl schaffen. Unten angekommen, müssten wir losrennen, im Zickzack über den Rasen, der natürlich ein erstklassiges Schussfeld war, aber vielleicht schützte uns die Dunkelheit, Wolken, kein Mond, und hinten rechts im Garten warteten Sträucher, sie würden meinem Vater die Sicht nehmen, und dann wären wir gerettet, denn ich

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