Angst (German Edition)
traute meinem Vater nicht zu, uns in den umliegenden Gärten, unserem Terrain, zu finden.
Später, viel später, habe ich meinem kleinen Bruder in einem Streit an einer Bartheke gesagt, ich hätte damals sein Leben gerettet. Das war natürlich ein dummer Satz, der nicht einmal stimmte, und mein Bruder bekam sofort einen harten Zug um den Mund und sagte, er wolle kein Leben von meinen Gnaden. Wir hatten einen unserer Streite, haben uns aber beim übernächsten Bier versöhnt. Wir beide, die überlebenden Kinder unserer Eltern, sind Gezeichnete, das ist keine Frage. Es ist uns nichts Schlimmes passiert, mein Vater hat nie auf uns geschossen, hat nie auf uns gezielt, hat nie eine Schießdrohung ausgesprochen, wir sind von Waffen genauso unbehelligt aufgewachsen wie alle anderen auch, aber sie waren da, und das hat alles verändert, weil die Möglichkeiten andere waren, vor allem die möglichen Bedrohungen, und das hat die Gedanken verändert, hat sie manchmal, aus heutiger Sicht, hysterisch werden lassen. Für mich war zu Hause ein Ort, an dem man erschossen werden konnte.
Ich weiß, welcher Gedanke jetzt naheliegt. Meine Schwierigkeiten, mich an eine neue Wohnung zu gewöhnen, mein einsames Sitzen in Restaurants, die mit Sternen ausgezeichnet wurden, könnten damit zu tun haben, dass mir als Jugendlicher mein Heim eine Weile bedrohlich vorkam. Vielleicht ist da was dran, aber mir erscheint eine solche Deutung insgesamt zu billig. Ich bin nicht das Opfer der Waffen meines Vaters. Man kann es doch auch mal so sehen: Unsere Kindheit unter Waffen war aufregend, war intensiv, sie hatte ihre Momente.
Heute sehe ich weniger die Bedrohungen als die Ängste meines Vaters. Ich erinnere ein Ereignis, das uns alle sprachlos gemacht hat. Wir waren zusammen zu Karstadt in die Schloßstraße gefahren, nicht mit dem Ford 12M, der war zu klein inzwischen, sondern mit einem Ford Granada. Wir brauchen neue Kleidung für den Winter, hatte meine Mutter gesagt, und dann kurvten wir über das Parkdeck, fanden lange keine Lücke, obwohl ein Preis für den Entdecker ausgesetzt war, ein Nuts. Da, da, krähte schließlich mein kleiner Bruder, zum Ärger seiner Geschwister, in deren Mitte er saß. Mein Vater ließ den Granada langsam auf die Lücke zurollen, aber dann schoss von links ein Kadett GT/E im Rallyelook heran, oben gelb, unten schwarz, und blockierte uns. Wir kamen nicht vorbei, aber der Kadett konnte auch nicht einparken, weil der Winkel zu spitz war. Dafür hätten wir abrücken müssen. Mein Vater hatte einen seiner Zornesausbrüche, er schrie und fuchtelte, der Fahrer des Kadetts, ein junger Mann, grinste frech. So standen wir dort eine Weile, und langsam wuchs meine Angst, mein Vater würde gleich aussteigen und den Kerl erschießen. Ein Revolver steckte unter seiner Achselhöhle, ich hatte ihn gesehen, als wir uns anzogen. Mein Vater wurde dann ganz still, und jetzt hatte ich Panik, das musste, dachte ich, die Stille vor dem Schuss sein. Er stieg jedoch nicht aus, er gab Gas und fuhr davon. Nun war ich auf eine andere Art entsetzt, genauso wie meine Geschwister. Wie konnte er diese Parklücke aufgeben, eindeutig unsere Parklücke? Mein Vater, groß, stark, wäre auch ohne Revolver mit diesem Kadett-Lümmel fertiggeworden. Wir suchten keinen neuen Parkplatz, mein Vater fuhr nach Hause, in einem Granada, in dem niemand sprach. Mein kleiner Bruder hatte kurz versucht, ein Nuts für sich zu reklamieren, weil er die Parklücke entdeckt habe und es ja nicht seine Schuld sei, wenn mein Vater nicht reinfahre, aber meine Schwester hat ihm rasch den Mund zugehalten, mit meiner Zustimmung.
Ich glaube, dass ich in dieser Situation viel verstanden habe über meinen Vater. Er konnte nicht streiten, konnte sich nicht mit Worten und Gesten durchsetzen, er konnte, wenn Probleme mit anderen Menschen auftauchten, nur fliehen oder schießen, und zum Glück ist er immer geflohen. Warum das so war, weiß ich nicht. Er hat uns seine Kindheit als normale Kindheit erzählt, er war ein Einzelkind, seinen Eltern gehörte ein Lokal in Spandau. Vom Krieg hat er wenig mitbekommen, weil ihn seine Eltern auf den Bauernhof eines Onkels in Westfalen schickten, als es schlimm wurde mit den Bomben. Mein Vater hat gesagt, dass ihn seine Mutter häufig mit einem Feuerhaken geprügelt habe und dass sein Vater, bevor er das Lokal eröffnete, Polizist gewesen sei und seine Dienstwaffe mit nach Hause gebracht habe. Die habe ihn interessiert, sagte mein Vater.
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