Angst in der 9a
Tarzan. »Borrello lässt andere machen. Er selbst bleibt im Hintergrund und rührt keinen Finger. Er ist der Boss. Er bezahlt das lichtscheue Gesindel, das – wie sagt man – die Dreckarbeit für ihn macht.«
Klößchen nickte. »Die Dreckarbeit! Er hat seine Müllmänner – aber nichts gegen diese ehrsamen Arbeiter, ohne die wir im Schmutz ersticken würden. Du hast Recht. Borrello hat Typen wie diesen Seibold. Tausend Mark zahlt er dem. Was hat der gesagt?«
»›Ich fingere das. Bald ist sie weich.‹ Wörtliches Zitat. Ende.«
»Höchst verdächtig.«
Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach.
Tarzan hatte das Fenster geöffnet.
Milde Abendluft strömte herein. Im Westen berührte die Sonne den Horizont. Ihre Strahlen tauchten den fernen Waldrand in braunes Licht. Über dem weitläufigen Schulgelände flogen Schwalben in wilder Hast.
Aus der großen Küche im Erdgeschoss drang das Scheppern von Geschirr, das Klirren von Bestecken, Pfannen, Töpfen und Schüsseln herauf.
In einer Viertelstunde würden sich alle zum Abendessen im Speisesaal versammeln.
Eine große Gemeinschaft, dachte Tarzan. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das später sein wird, wenn man allein, zu zweit oder im kleinen Familienkreis die Mahlzeiten einnimmt. Ob es dann auch so lustig zugeht?
»Kannst du riechen, was es gibt?«, fragte Klößchen. »Dünnen Tee als Getränk.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Seit ich hier bin, gab es abends nie was anderes als dünnen Tee. Ich meine doch den nahrhaften Teil des Dinners.«
»Es riecht nach Fisch.«
»Oje!«, seufzte Klößchen. »Dann gibt es Salamibrote.« »Ich rieche auch Zwiebeln.«
»Das hört sich schon besser an. Erdbeeren kriegen wir viel zu selten. Schade nur, dass sie immer ein bisschen nach Zwiebeln riechen.«
»Sag das der Hauptköchin«, meinte Tarzan, »und sie macht einen Rollbraten aus dir, an dem wir andern bis zum Spätherbst zu kauen haben.«
»Das wäre Kannibalismus (Menschenfresserei). Außerdem verstehe ich mich mit der Köchin sehr gut. Sie hat ein Herz für Feinschmecker.«
Als es zum Essen läutete, gingen sie hinunter und schlossen sich der lärmenden Menge an, die sich mit hungrigen Mägen in Richtung Speisesaal bewegte.
Am Eingang wurde geschubst und gerempelt.
Klößchen, gefräßig wie immer, versuchte sich durchzuboxen, blieb aber in einer Menschentraube stecken.
Tarzan gehört zu den wenigen der jüngeren Schüler, die von niemandem gerempelt wurden, jedenfalls nicht absichtlich. Wie gut er in Judo war, hatte sich rumgesprochen.
In diesem Moment freilich erhielt er einen Stoß in den Rücken, dass er vorwärts stolperte und gegen einen Schüler aus der Abitur-Klasse prallte.
Tarzan entschuldigte sich hastig, wirbelte herum und packte den hinter ihm Stehenden hart an der Schulter.
Verblüfft sah er dann in Ulrich Kanter-Rankes entsetztes Gesicht.
»Entschuldige, Tarzan!«, stammelte der. »Das wollte ich nicht. Mir hat jemand ein Bein gestellt. Da bin ich fast hingeflogen und dir mit dem Ellbogen ins Kreuz.«
Tarzan ließ ihn los. »Kann ja passieren. Aber meine linke Niere tanzt Samba.«
Dass Ulrich Kanter-Ranke ihn absichtlich gestoßen hatte, war völlig unmöglich.
Der Junge, ebenfalls 13, war einer der wenigen Internen der 9a.
Er sah aus wie Hefe und Mehlkleister, trug einen Kurzhaarschnitt, mit dem man früher die 6- bis 8-Jährigen verschandelt hatte, und war ein regelrechter Waschlappen: so weich, dass er sich nie was getraute, im Sport eine Null; und eine eigene Meinung würde er sich wohl niemals zulegen. Er gehörte zu denen, die es mit keinem verderben wollten und daher jedem nach dem Mund redeten.
Tarzan mochte ihn nicht, hatte aber Mitleid mit ihm.
Als Kanter-Ranke mal von den beiden Busjäger-Brüdern aus der WIGWAM-Bude wegen einer Nichtigkeit verprügelt werden sollte, hatte er sich schützend vor ihn gestellt. Mehr war nicht nötig gewesen. Nicht im Traum wäre es den Busjägern eingefallen, sich mit Tarzan anzulegen.
Als er jetzt an den Tisch kam, saß Klößchen schon auf seinem Platz.
»Eine sensationelle Neuigkeit, Tarzan. Es gibt dünnen Tee.«
»Und sonst?«
»Hering mit Pellkartoffeln. Zwiebeln sind auch drin.« Klößchen zog ein erheblich krumm gebogenes Stück Schokolade aus der Tasche.
»Schmeckt immer. Gut, dass ich Selbstversorger bin.« Während des Essens blickte Tarzan nachdenklich auf den Teller.
»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Klößchen.
»Doch.«
»Suchst du Erdbeeren in
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