Angst
Das war sogar mehr als nur verdammt viel. Bis jetzt war ihm in der Unmasse von Zahlen, die die ganze Zeit herumschwirrten, die Bedeutung der Größe dieser Position entgangen. Er ging zu einem freien Terminal, beugte sich über die Tastatur und rief den VIX -Chart auf. Ju-Long und van der Zyl standen hinter ihm. Die Grafik des Volatilitätsindexes wies für die beiden letzten Handelstage ein klar erkennbares, wellenförmiges Muster aus. Die Linie stieg und fiel innerhalb eines schmalen Bereichs. Allerdings hatte sie während der letzten zwanzig Minuten steil nach oben tendiert: von 24 Punkten bei Öffnung der amerikanischen Märkte auf fast 27. Es war noch zu früh, um daraus schon jetzt einen signifikanten Anstieg der Angst im Markt selbst ableiten zu können. Aber auch wenn das Angstbarometer nicht weiter stieg: Schon jetzt belief sich bei einer Summe von einer Milliarde Dollar der Profit auf fast einhundert Millionen. Wieder spürte Quarry dieses kalte Kribbeln an der Wirbelsäule.
Er drückte auf einen Knopf und schaltete den Live-Ton vom Parkett des S&P 500 in Chicago ein – eine Dienstleistung, die Hoffmann Investment Technologies abonniert hatte. Die Live-Schaltung gab ihnen ein unmittelbares Gefühl für die Märkte, das die nackten Zahlen nicht immer liefern konnten. Eine amerikanische Stimme ertönte: »Der einzige Käufer, den ich hier seit 9 Uhr 26 auf dem Zettel habe, ist ein Goldman-Käufer bei 51, wenn auch 250 Stück. Sonst nur Verkäufer. Merrill Lynch verkauft in großem Stil, Prudential Bache verkauft in großem Stil, von 59 bis runter auf 53. Dann die SBV und Smith … alle verkaufen, verkaufen, verkaufen …«
Quarry schaltete wieder aus. »Also, LJ «, sagte er. »Liquidieren Sie unsere 2,5 Milliarden in US -Staatsanleihen. Nur für den Fall, dass wir morgen ein paar Sicherheiten vorweisen müssen.«
»In Ordnung«, sagte Lu-Jong. Die Blicke der beiden trafen sich. Lu-Jong waren die Bewegungen im VIX genauso aufgefallen wie van der Zyl.
»Wir sollten uns ab jetzt mindestens einmal pro Stunde kurzschließen«, sagte Quarry.
»Und Alex?«, sagte Lu-Jong. »Er könnte uns erklären, was da los ist.«
»Ich kenne Alex. Er taucht sicher bald wieder auf, keine Sorge.«
Die drei Männer gingen in verschiedenen Richtungen davon. Wie Verschwörer, dachte Quarry.
Vierzehn
Nur die Paranoiden überleben.
Andrew S. Grove
ehem. Präsident der Intel Corporation
Einen Block vom Hotel Diodati entfernt hatte Hoffmann auf der Rue de Lausanne ein Taxi angehalten. Aus drei Gründen erinnerte sich der Taxifahrer später genau an seinen Fahrgast. Erstens weil er in Richtung Avenue de France gefahren war und Hoffmann ihm eine Adresse an einem Park im westlich von Genf gelegenen Vernier genannt hatte, das sich in entgegengesetzter Richtung befand. Er hatte deshalb in einer illegalen Kehrtwende mehrere Fahrspuren überqueren müssen. Zweitens weil Hoffmann einen nervösen, geistesabwesenden Eindruck auf ihn gemacht hatte. Als ihnen ein Streifenwagen entgegenkommen war, war Hoffmann in seinem Sitz tief nach unten gerutscht und hatte sich eine Hand über die Augen gehalten. Der Fahrer hatte ihn im Rückspiegel beobachtet. Hoffmann hatte einen Laptop umklammert gehalten. Einmal hatte sein Handy geklingelt, er hatte aber nicht geantwortet und es danach ausgeschaltet.
Die Fahnen vor den Amtsgebäuden standen waagerecht im scharfen Wind, und die Temperatur blieb weit hinter den Werten zurück, die die Reiseführer für diese Jahreszeit verhießen. Es roch nach Regen. Die Gehwege waren leer, die Menschen saßen in ihren Autos. Der Nachmittagsverkehr verstopfte die Straßen. Deshalb war es schon nach vier Uhr, als das Taxi schließlich das Zentrum von Vernier erreichte. Hoffmann beugte sich ruckartig zu dem Fahrer vor und sagte: »Lassen Sie mich hier raus.« Er gab ihm einen Hundert-Franken-Schein und stieg aus, ohne auf sein Wechselgeld zu warten. Das war der dritte Punkt, den der Fahrer im Gedächtnis behalten hatte.
Vernier lag auf hügeligem Gelände am rechten Ufer der Rhône. Eine Generation früher war es noch ein eigenständiges Dorf gewesen, dann hatte sich Genf über den Fluss ausgebreitet und das Dorf geschluckt. Jetzt waren die modernen Wohnblocks so nah an den Flughafen herangerückt, dass die Bewohner die Namen auf den landenden Flugzeugen lesen konnten. Dennoch hatten sich Teile des Ortskerns den Charakter eines traditionellen Schweizer Dorfes erhalten. Die überstehenden Dächer und die grünen
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