Angst
Holzläden hatte Hoffmann die vergangenen neun Jahre nie vergessen. In seiner Erinnerung verband er Vernier immer mit melancholischen Herbstnachmittagen, an denen gerade die Straßenlaternen eingeschaltet wurden und die Kinder aus der Schule kamen. Er bog um eine Ecke und sah die kreisförmige Holzbank, auf die er sich immer gesetzt hatte, wenn er zu früh zu seinem Termin gekommen war. Die Bank umschloss einen mächtigen, dicht belaubten alten Baum. Er brachte es nicht über sich, zu dem Baum hinüberzugehen, und verharrte deshalb auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Alles sah fast so aus wie damals: die Wäscherei, der Fahrradladen, das schmuddelige kleine Café, in dem sich die alten Männer trafen, das Haus der örtlichen Handwerkskammer, das wie eine Kapelle aussah. Daneben befand sich das frei stehende Haus, in dem man ihn angeblich geheilt hatte. Einst hatte es ein Geschäft beherbergt, vielleicht einen Gemüse- oder Blumenladen, irgendetwas Nützliches. Die Besitzer hatten damals wahrscheinlich über den Verkaufsräumen gewohnt. Heute befand sich im Erdgeschoss kein Schaufenster mehr, sondern eine große Milchglasscheibe. Das Haus hätte die Praxis eines Kieferchirurgen sein können. Der einzige Unterschied zu damals war, dass vor acht Jahren noch keine Kamera die Eingangstür überwacht hatte. Das war neu, dachte er.
Hoffmanns Hand zitterte, als er auf den Klingelknopf drückte. Hatte er die Kraft, das alles noch einmal durchzustehen? Beim ersten Mal hatte er nicht gewusst, was ihn erwartete. Jetzt musste er ohne den überlebenswichtigen Panzer der Unwissenheit auskommen.
»Guten Tag«, sagte eine junge Männerstimme.
Hoffmann nannte seinen Namen. »Ich war früher ein Patient von Doktor Polidori. Meine Sekretärin hat für morgen einen Termin für mich ausgemacht.«
»Tut mir leid, aber freitags ist Doktor Polidori immer bei ihren Patienten im Krankenhaus.«
»Morgen ist zu spät. Ich muss sie jetzt sprechen.«
»Ohne Termin geht das leider nicht.«
»Sagen Sie ihr meinen Namen. Sagen Sie ihr, es ist dringend.«
»Wie war der Name noch mal?«
»Hoffmann.«
»Einen Moment, bitte.«
Die Türsprechanlage verstummte. Hoffmann schaute hoch zur Kamera und hob unwillkürlich die Hand, um sein Gesicht abzuschirmen. Seine Kopfwunde war nicht mehr klebrig, sondern fühlte sich spröde an. Als er seine Fingerspitzen betrachtete, sah er, dass sie mit etwas bedeckt waren, was wie feine Rostpartikel aussah.
»Kommen Sie bitte rein.« Ein kurzes Summen ertönte – so kurz, dass Hoffmann nicht schnell genug gegen die Tür drücken konnte und ein zweites Mal klingeln musste. Der Empfangsraum war gemütlicher eingerichtet als damals – ein Sofa, zwei Polstersessel, ein Teppich in einem beruhigenden Pastellton, Gummibäume und hinter dem Kopf des Mannes, der am Empfang saß, eine große Fotografie mit Bäumen, durch deren Astwerk hindurch Sonnenstrahlen auf eine Lichtung fielen. Daneben hing ihre Praxisberechtigung: Dr. Jeanne Polidori, Diplom für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität von Genf. Auch der Empfangsraum wurde von einer Kamera überwacht. Der junge Mann hinter dem Schreibtisch behielt ihn aufmerksam im Auge. »Gehen Sie gleich hoch. Die Tür geradeaus.«
»Ja«, sagte Hoffmann. »Ich weiß.«
Das vertraute Knarzen der Treppe löste sofort eine Flut alter Gefühle aus. Manchmal hatte er sich kaum bis zum Ende der Treppe schleppen können. An den schlimmsten Tagen war er sich wie ein Mann vorgekommen, der ohne Sauerstoff den Mount Everest besteigen wollte. Depres sion war das falsche Wort, Begräbnis traf es besser. Er hatte sich gefühlt, als hätte man ihn in einer kalten Grabkammer mit dicken Betonwänden bestattet, durch die kein Lichtstrahl und kein Geräusch drangen. Jetzt wusste er, dass er das nicht noch einmal durchhalten würde. Eher würde er sich umbringen.
Polidori saß in ihrem Sprechzimmer am Computer. Als er den Raum betrat, stand sie auf. Sie war genauso alt wie Hoffmann und war früher sicher eine gut aussehende Frau gewesen. Von unterhalb ihres linken Ohrs verlief eine schmale Furche über die Wange bis hinunter zum Hals. Wegen des fehlenden Muskelfleischs und Gewebes sah ihr Gesicht schief aus, so als hätte sie einen Schlaganfall erlitten. Normalerweise trug sie ein Halstuch, heute nicht. In seiner offenen Art hatte er sie einmal darauf angesprochen: »Was ist bloß mit Ihrem Gesicht passiert?« Sie hatte gesagt, dass ein Patient sie angegriffen habe.
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