Angstblüte (German Edition)
lauschen würde, nicht frei sprechen konnte. Im Büro konnte er fast frei sprechen. Frau Lenneweit. Aber hier im Gewühl derer, die nicht ins Bett können, konnte er sprechen. So frei wie nirgends sonst. Und rief an. Besetzt. Es war nach elf. Duschen und Föhnen entfiel, also Schwester Angela. Oder Strabanzer. Oder? Sie war heute zurückgekommen. Wenn Strabanzer jetzt bei ihr wäre, würde sie nicht telefonieren. Sicher berichtete sie Strabanzer, daß es gutgelaufen ist, daß sie jetzt befreundet ist mit Laura Broch und Waltraud Walterspiel, Frau Walterspiel will sie und Laura Broch so schnell wie möglich wieder beschäftigen, vielleicht gelingt dem ätzenden Trio einmal der Einbruch ins Abendprogramm. Alles, was er ihr Nacht für Nacht abgerungen, abgezwungen hat, muß sie jetzt Strabanzer berichten. Klar. Und wenn sie nach zwölf auflegt und er ist nicht sofort da mit seinem Anruf, dann kann er, weil sie doch endlich wieder schlafen muß, nicht mehr anrufen. Also durfte er keine fünf Minuten ohne Anruf vergehen lassen. Besetzt, besetzt, besetzt. Da störte sein Anrufen nicht. Er legte beim ersten Besetztzeichen sofort auf.
Es hatte sich ein Mann an seinen Tisch gesetzt, hatte auch einen halben Liter bestellt. Er machte deutlich, daß er Karls Telefonversuche nicht wahrnehme. Der war mit nichts so sehr beschäftigt wie mit der Demonstration seines Nicht-auf-dieses-Telefonieren-Achtens. Der war wahrscheinlich betrunken. Bestellte gleich noch ein zweites Bier. Sein Hemd war offen bis zum Gürtel. Was man da sah, war eher schmächtig und weiß. Also daß er das sehen ließ, konnte nicht Absicht sein. Als Karl gerade wieder eine Anruf-Pause machte, kriegte der das sofort mit, drehte sich jetzt voll zu Karl hin und sagte: Ich bin ein Dichter, zweiundvierzig Jahre alt, dichte jeden Tag einen Satz, den ich dann abends hier verkaufe an Leute mit Sinn dafür. Sie wissen, der Thomas Mann hat davon gelebt, daß er keinen Tag hat vergehen lassen, ohne einen Satz zu schreiben. Darf ich Ihnen meine heutige Tagesproduktion anbieten?
Bitte, gern, sagte Karl.
Der Mann nahm einen Bierdeckel und schrieb mit einem nicht zu dicken Filzstift in violetter Farbe auf diesen Bierdeckel:
Armut ist eine Blume
Mit empfindlichen
Blättern.
Mögen Sie’s, fragte er.
Ja, sagte Karl, das ist ein schöner Satz.
Wenn Sie meine Zeche bezahlen, gehört er Ihnen, sagte der Mann.
Gern, sagte Karl.
Der Mann bestellte ein drittes Bier und sagte der Kellnerin, dieser Herr bezahle.
Karl bestätigte das und bestellte für sich auch noch eins. Dann fragte er den Mann, woher er komme.
Aus Duisburg, sagte der.
Das habe ich mir gedacht, sagte Karl.
Er trank sein zweites Bier nicht mehr ganz aus, zahlte, grüßte, wünschte alles Gute und ging.
Jetzt konnte er Joni nicht mehr anrufen. Das hatte der Dichter geschafft. Aber den Bierdeckel hatte er mitgenommen.
Zu Hause schlich er in sein Zimmer hinauf und lehnte den Bierdeckel so gegen das Körbchen mit den Kugelschreibern, daß er den Satz immer vor sich haben würde.
Armut ist eine Blume
Mit empfindlichen
Blättern .
Und dann ist der aus Duisburg. Karl kippte seinen Stuhl, sah zu den Astaugen hinauf, um zu sehen, wie die jetzt auf ihn herabschauten. Nicht nur skeptisch, fand er.
Er konnte jetzt nicht die siebzehn Stufen von seinem Stockwerk zum Schlafzimmerstockwerk hinuntergehen. Er mußte froh sein, daß er ohne zu überlegen an der Schlafzimmertür vorbeigegangen und die siebzehn Stufen hinaufgegangen war. Ob Helen schlief oder nicht schlief? Schreien täte gut. Bereite den Schrei vor. Denk so lange an den Schrei, bis er … Bereite den Verzicht vor. Als etwas Erlernbares. Dir wird, worauf du nicht verzichten lernst, ohnehin entrissen. Verzichten heißt so tun, als sei man einverstanden damit, daß einem etwas genommen wird, was einem auch genommen wird, ohne daß man einverstanden ist. Verzichten ist also nichts als Kulissenschieberei. Eine Kulturmache. Eine mehr. Schrei wenigstens. Visionen züchten bis zum Gehtnichtmehr. Sag: Ich bezahle in meiner Währung. Oder nicht. Bleib unbelehrbar. Wie viele Jonis gab es überhaupt? Es war unmöglich zu entscheiden, welche Joni die richtige-wichtige-entscheidende war. Ihr zuliebe willst du sein wie kein anderer. Aber ihretwegen bist du wie alle. Wissend, daß es keine Einzigartigkeit gibt. Es gibt Wörter, die gibt es, weil es, was sie sagen, nicht gibt. Durch deine Geschlechtshandlungen bist du das Massenhafte in Person. Wenn du durch etwas
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