Angstblüte (German Edition)
Grünewald-Bild. Sie erfrischten sich.
Dann stellte sich Joni so an das zimmerbreite Fenster, daß er spürte, er mußte sich neben sie stellen. Als er neben ihr stand, sagte sie: Was man am liebsten tut, verheimlichen, wie findest du das?
Weil sie so heftig fragte, wußte er, daß sie sich als Dichterin meinte. Also konnte er sagen: Du mußt dein Leben ändern.
Das sagt Rilke auch, sagte sie.
Dann muß es ja stimmen, sagte er.
Und sie: Sie behandle, was ihr Liebstes sei, wie eine unanständige Krankheit oder ein peinliches Laster. Und erst die Vorwürfe. Zu feige zu gestehen, was sie wirklich wolle. Alle Achtung vor Fürst Bertram. Egal, wen der abgeschleppt hatte, er fing immer von seinen sieben Serien an. Und sie? Außer Karl wisse kein Mensch in der Welt, daß sie eine Lyrikerin sein möchte. Gedichte sind das Schönste, was es gibt.
Karl sagte, er habe bis jetzt geglaubt, das Schönste sei der anatocismo. Also, warum sind Gedichte das Schönste?
Sie sind die Sprache selbst. In jedem. Jeder hat sie. Nicht jeder bringt sie heraus. Sie wachsen in einem, ohne daß man das merkt. Dann plötzlich kommen sie heraus. Von da an paßt man auf. Es wird eine Arbeit. Die schönste Arbeit überhaupt. Töne fangen, ohne sie zu verletzen.
Er sagte, ob sie’s glaube oder nicht, ganz anders sei es mit dem Zinseszins auch nicht. Er sei das Geld des Geldes, also die Sprache der Sprache, also ist der Zinseszins ein Gedicht.
Also, sagte sie, paß auf.
Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
Aus einer Entfernung ohnegleichen schrei ich.
Einsamkeit wanzt sich an.
Wie weit es von dir zu mir ist, sagst du mit Wörtern,
die nichts von mir wissen. Du mußt über Klingen springen,
wenn sie in der Hitze blitzen, du bist, wo du bist, daheim,
deine Muskeln gehorchen dem Reim.
Tanz mit mir hinaus aus jedem Fest,
tanz mit mir in den Schmutz meiner Sprache.
Laß die Masse der Märtyrer glotzen,
laß Koloraturen das Spinnweb küssen, das Spiel ist vorbei,
wir träumen die Regeln und pfeifen auf unseren Untergang.
Unser Gefängnis hat tausend Türen,
die zu tausend Gefängnissen führen.
Im Traum reißt die Maschine mir den Kopf ab,
mit offenen Augen und singend schaukelt er
flußabwärts zum Meer. Und sieht zurück.
Zum Glück ist die Erde leer.
Als sie aufgehört hatte, sank ihr Kopf an ihn hin, dann sagte sie: Darf ich unbelehrbar sein?
Er sagte: Du mußt. Und wußte nicht, warum er das sagte. Ein längeres Schweigen. Er konnte nichts sagen. Aber so, wie sie sich an ihn lehnte, mußte ihr das Schweigen recht sein. Viel später fragte er: Bleibt es bei Haidhausen?
Aber gegessen wird hier, sagte sie.
Ich bin gespannt, sagte er.
Sie müßten dafür noch etwas einkaufen, sagte sie.
In Haidhausen, sagte er.
Sie sei dankbar für Vorschläge, sagte sie.
Er, entwerferisch: Broccoli mit Karottenwürfeln, gerösteten Pinienkernen, durchwirkt von Zitronensaft, dazu italienische Nudeln, frische Salbeiblätter und ebenso frische Kapuzinerkresseblüten, dazu Kurkuma.
Klingt idyllisch, sagte sie. Aber ob sie das hinkriege.
Er assistiere, sagte er. Übrigens, seine Beteiligung am Othello-Projekt sei überwiesen.
Das wird Rudi-Rudij freuen, sagte sie.
Der habe ihn beeindruckt, sagte Karl.
Du ihn auch, sagte sie.
Sie trug dann für den Ausflug nach Haidhausen hinüber tatsächlich nichts anderes als die Kleinigkeiten, in denen sie ihn empfangen hatte. Am Max-Weber-Platz ließ er halten. Joni sollte die Steinstraße erleben, bevor sie vor Ereweins Schaufenster ankamen. Er erzählte von Erewein auf eine Art, daß sie es nicht ablehnen konnte zuzuhören. Er erpreßte sie durch eine Art unwillkürlicher Teilnahme-Begeisterung, die ihn ergriff bei der Wiedergabe dessen, was Erewein passiert war. In welchem Zustand sie jetzt Ereweins Atelier-Fenster antreffen würden, wisse er nicht.
Dann staunte er. Das Schaufenster war jetzt ein Hutgeschäft und propagierte einen einzigen Hut, der Dennoch-Hut hieß und in vielen Formen und Farben ausgestellt war. Drei Basismodelle und ein Dutzend Variationen, Karl hatte zum Weitergehen gedrängt, als er das Basismodell Márfa entdeckt hatte. Alle Kopfbedeckungen waren aus Naturfasern, gedacht für Frauen, die durch Chemotherapie vorübergehend oder für immer ihre Haare verloren hatten. Das Wort Chemotherapie kam nicht vor. Es hieß, der Dennoch-Hut behüte, beschütze und belebe jede Frau in schwierigen Zeiten. Produziert und verkauft von Lieselotte von Kahn. Aus einem Mitnehmkästchen vor dem
Weitere Kostenlose Bücher