Angstblüte (German Edition)
aussahen, als seien sie’s noch. Ihn berührt, was er berührt. Er ist ein Berührer. Er läßt jedem seinen Hausheiligen. Für ihn war möglich nur Dostojewskij oder Nietzsche. Die Sprache hat’s entschieden. Aber er war nicht in Turin. Glücksfund, hat Nietzsche Turin genannt. Er, Babenberg, hat die letzte Adresse, Via Carlo Alberto 6, dritter Stock, nicht geschafft, und von da aus hat Nietzsche den Palazzo Carignano gesehen, und er, Markus Luzius Babenberg, hat es nicht geschafft, die Piazza Carlo Alberto zu betreten, das Pflaster der Katastrophe, das Nietzsche-Golgatha, der Gekreuzigte war ja dann er, aber jetzt …
Herr Babenberg wandte sich Karl von Kahn zu.
… daß Herr von Kahn ihm Turin offeriere, sei eine biographische Pointe. Vielleicht könnten sie einander führen. Zurück zu usura , anatocismo und interesse composto .
Das, sagte Karl von Kahn, seien eben die Maßnahmen, den Geldwert dem gesellschaftlich verfügten Verfall zu entziehen. Seine Geschäftsphilosophie sei empfindlich für jede Schreckensmeldung. Dann aber, je krasser die Meldung, desto spürbarer die Selbstbetörungskraft seiner Philosophie. Was ihm Angst einjagen soll, beflügelt ihn. Immer wenn er zusammenbrechen sollte, blüht er auf.
Dann geht es Ihnen wie den Erbsenblattläusen, sagte Herr Babenberg. Die schütten in Gefahrensituationen einen Geruchsstoff aus, der ihrem Nachwuchs Flügel verleiht. Wenn die Gefahren zum Dauerzustand werden wollen, dann schlüpfen aus den Eiern mehr und mehr Blattläuse, die schon mit Flügeln ausgerüstet sind. Ich hoffe, die Blattlaus-Parallele ist Ihnen nicht unangenehm.
Karl von Kahn: Für mich ist es immer das Wichtigste, daß ich nicht der einzige bin, der so ist, wie ich bin. Ich bin Ihnen dankbar für das Blattlaus-Beispiel. Je mehr Natur in einem Vorgang, desto weniger Willkür. In den Ahndungen des Marktes, die ich nicht Bestrafungen nenne, ist weniger Willkür enthalten als in allen anderen von Menschen produzierten Systemen. Der Markt hat Wirkungen, reagiert auf seine Wirkungen, hat dadurch wieder Wirkungen, auf die er wieder reagiert. So viele Kräfte der Vernunft und Unvernunft, der Hoffnung, der Angst, die zusammenwirken, auch im Gegeneinander noch zusammenwirken und im unbeherrschbaren Wechsel Hochstimmung und Panik produzieren, ein Prozeß, in dem nichts ohne Folge bleibt, aber keine Folge vorhersehbar und schon gar nicht determinierbar ist – und wenn, dann nur im zur pathologischen Anekdote abgeschnürten Extrareservat –, da darf man von einem Vorgang sprechen, der zur Natur gehört oder doch dahin tendiert. Die Wetterereignisse sind leichter zu beobachten und zu berechnen als die des Marktes, aber genausoschwer beeinflußbar. Die Moral schützt vor Verständnis. Sie konstruiert das Gute nur, um das Böse zu schaffen. Unter dem Vorwand, es zu beseitigen. Interessiert ist die Moral nur am Bösen. Der immer lebensfeindlichen Moral präsentiere ich die lebenspendende Kraft des Kontos. Sie prüfen es nicht jeden Tag, aber jeden fünften Tag schon und sehen, wie es anschwillt und anschwillt, nicht explodiert, sondern anschwillt. Sie spüren, daß Sie einen Naturvorgang erleben. Das ist Wachstum. Das geht auf Sie über, Sie wachsen mit, egal, wie alt Sie sind, das schwöre ich Ihnen. Und wenn es schwindet und schwindet, wenn es Sie leiden läßt, dann erleben Sie das auch als Leben. Verluste werden, sagt die idiotische Statistik, dreimal so stark erlebt wie Gewinne. Ja, da sage ich doch: Her mit den Verlusten. Aber es gibt natürlich keinen Gewinn, also auch keinen Verlust. Es gibt die Bewegung. Die Illusion. Ist gleich: das Leben. Übrigens, wenn Sie einmal in Ihren Kreisen Legitimierhilfe brauchen, Albert Einstein, die Zitier-Ikone schlechthin, hat gesagt, der Zinseszins sei die größte Erfindung des menschlichen Geistes.
Babenberg: Danke für die Predigt. Ist gespeichert. Warum aber der Spendierrausch Ihres George Soros? Dieser wahrhafte Weltmann! Ist das, was er uns vormacht, nicht von der Qualität einer Beichte in der Dorfkirche? Zuerst der Spekulations-Weltmeister, dann gleich der Weltmeister in der Philanthropie.
Karl von Kahn: Er ist nicht MEIN George Soros. Aber warum das moralisch messen? Was Sie Spendierrausch nennen, ist eine Wirkung der Wirkung. Soros hat den Markt mit Marktmitteln hochgereizt wie keiner vor ihm, hat irre verdient, hat gesagt: So irre darf nicht verdient werden, der Markt muß reguliert werden. Und um vor sich selber glaubhaft zu sein, spendiert
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