Angstblüte (German Edition)
benutzte, ein blühendes, noch ganz unausgeschöpftes, ein reines Hoffnungswort für einen schönen Zustand. Sagen Sie einfach: In der richtigen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen. Das ist genau so schöne, unwirkliche Zukunftsmusik, wir haben so wenig eine richtige Gesellschaft, wie es je eine kommunistische Gesellschaft gegeben hat oder hat geben können. Moment. Und sie kramte in ihrem Täschchen, das sie selber ihr verflixtes Täschchen nennt und das hauptsächlich aus dunklem Leder und Atlas und Bronze und Lapislazuli besteht und verziert ist mit mancherlei Getier, holte aus dem goldschimmernden Täschcheninneren einen Zettel heraus und sagte: Erst gestern habe ich noch ein paar Marx-Wörter gefunden, die spüren lassen, was für eine Gesellschaft ihm vorschwebte, hören Sie: … heute dies, morgen jenes zu tun, morgen zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Fischer oder Kritiker zu werden. Und was heißt das für Barbara Steinbrech, fragte sie dann. Und die fuhr im Gundi-Ton fort: … ohne je Geliebte oder Mutter zu werden. Bravo, sagte Gundi, brava, müßte ich zu Ihnen sagen. Und wissen Sie was, sagte sie, während sie ihren Zettel sorgfältig ins Täschchen zurücksteckte, Sie sind in den letzten Minuten, seit wir von einer Gesellschaft ohne Rollenzwänge sprechen, von Sekunde zu Sekunde schöner geworden. Überzeugen Sie sich. Herr Sheshadri, bitte. Der Butler schob den immer verfügbaren Spiegel auf Rädern vor Frau Steinbrech hin. Sie sind eine Frau, sagte Gundi, die in diesem Spiegel vollkommen zur Geltung kommt, aber der Spiegel durch Sie auch. Venedig, aus meinem geliebten 17. Jahrhundert, fühlen Sie mal diesen dunklen Rahmen, belegt mit Gold und Perlmutt. Und der Spiegel war noch nie so schön wie in diesem Augenblick, weil Sie in ihn hineinschauen, weil er Sie spiegeln, Sie rahmen darf. Wenn er mir gehörte, würde ich ihn Ihnen schenken, daß sie in ihm immerzu sich selber fänden, Barbara Steinbrech. Weil wir keine Gesellschaft sind, die ein Recht hat, uns Rollen zu verpassen, müssen wir uns aus allen Rollen wegstehlen und so weiter. Einverstanden? Barbara Steinbrech sagte: Im Augenblick ganz und gar. Und weil Sie im Augenblick einverstanden sind mit sich, sind Sie schön, sagte Gundi. Im Augenblick macht die Mutter der Geliebten keinen Vorwurf und die Geliebte der Mutter auch nicht. Aber, sagte Barbara Steinbrech, sich Vorwürfe zu machen bringt auch etwas. Und Gundi sofort: Das Schlimmste sei, wenn man sich nichts mehr übelnehme. Wenn man gesiegt hat in sich selbst. Herr ist über sich selbst. Aber dann ahnt man, über wen man da Herr geworden ist. Der möchte man lieber nicht sein. Also doch gegen sich sein, sagte Frau Steinbrech. Ja, rief Gundi, um sich selbst kennenzulernen. Dann tue man, bitte, das, was einen schöner mache. Und das seien nicht die das Gesicht zerfurchenden Vorwürfe. Jeder habe in sich eine Schönheit, die er erlösen müsse, befreien. Durch nichts als Einverstandensein mit sich selbst.
Gundi hat, glaubt sie, etwas entdeckt, was sie nicht Entdeckung, sondern Erfahrung nennt. Sie hat erfahren, sagt sie und bringt es zum Ausdruck, daß wir haltlos sind. Wir alle. Weil wir keine Gesellschaft sind. Geschwollen ausgedrückt, sagt sie, keine Kultur mehr sind und noch keine Gesellschaft, sondern ein Gemenge von Isolationen.
Jeder sei seines Unglücks Schmied, hat Gundi einmal zu einem ihrer Gäste gesagt, zu einem Lehrer, der sich von seinen Kolleginnen verfolgt fühlte, weil er gesagt hatte, seit die Frauen im Lehrerzimmer die Majorität hätten, sei die Wahrheit zur Fremdsprache geworden. Die Direktorin: Wenn er sich nicht sofort entschuldige, drohten disziplinarische Maßnahmen.
Gundi zitiert dann immer wieder Grundgesetzsätze, die die Illusion schaffen, Gerechtigkeit sei möglich. Nichts sei so verletzend wie die Gerechtigkeitsillusion. Dann fragt sie so lange, bis ihre Gäste die Kälte zugeben, in der sie leben. Individuum, sagt Gundi, sei der Name unserer Krankheit. Das Individuum will keine Gesellschaft, sondern sich. Sie fragt aus jedem seine Individualität heraus. Sie läßt ihn erleben, daß er stolz ist auf seine Unverwechselbarkeit. Dann fragt sie weiter, bis aus der Unverwechselbarkeit lauter Verwechselbarkeiten werden. Und sie nimmt sich nicht aus. Sie geht immer noch einen Schritt weiter als der Gast.
Weitere Kostenlose Bücher