Angstblüte (German Edition)
Arme aus und umarmte ihn, ohne die Flöte aus der Hand zu geben. Sie war selig. Wieder einmal. Telemann. Sie hätte am liebsten mit ihm getanzt. Ob sie ihm vorspielen dürfe. Von ihr aus könnte das Vereinskonzert morgen stattfinden. Weißt du … Und sie spielte. Wie sie gespielt hatte, als er einem Kunden zuliebe ein Vereinskonzert besuchen mußte und so saß, daß die Flötistin direkt vor ihm spielte. Ein Kleid, in grellen Farben, die Muster organisch, nicht geometrisch. Aber was ihn dieser Flötistin unterworfen hatte, war, daß ihre Oberschenkel durch eine schräg über das Kleid herablaufende Schärpe praktisch zusammengebunden waren. Die Flötistin bog sich in der Musik wie ein Baum im Sturm. Sie musizierte gegen die Oberschenkelfesselung. Dann die Veränderung ihres Mundes, sobald sie nicht spielte. Sofort schwoll ihr gerade noch übermäßig disziplinierter Mund in eine vorher nicht vorstellbare Fülle. Und wenn sie wieder dran war, nahm der Mund sich wieder unheimlich zusammen. Karl von Kahn war verloren. Henriette war Krankengymnastin in einer Naturheilpraxis, und sie war Flötistin. Er heiratete ein Märchen. Ihr war alles eins. Fanny wurde vom Geburtsaugenblick an aufgenommen in ihr wirklichkeitsresistentes Märchen. Die Scheidung ließ sie sich gefallen wie eine Fremdsprache. Ihre Zurückhaltung, ihr Staunen, ihr wirkliches oder gespieltes Unverständnis für das, was passierte, war, fand er, schlimmer als der Ehekrieg, den Helen und der Schlösserverwalter gegeneinander führten. Sieben schreckliche Monate lang. Elf Monate später heirateten Helen und er. Beide hatten am Hochzeitstag noch Scheidungswunden. Sie streichelte die seinen, er leckte die ihren. Das taten sie an der ligurischen Küste, im Wasser und auf dem Land und Tag und Nacht. Zwölf Jahre war das jetzt her, daß der Achtundfünfzigjährige die neununddreißigjährige Psycho-Tennisspielerin entdeckt hatte, die jeden Ball kriegte. Er hatte zum Glück die entscheidenden Sätze gesprochen, die ausschlaggebenden Anträge gestellt, bevor er wußte, daß sie wohlhabend war. Von Haus aus. Darauf hatte ihr Mann, der Schlösserverwalter, keinen Anspruch. Helens Vater hatte alles getan, gierigen Schwiegersöhnen zu wehren. Jetzt war der Vater tot. Und Helen, die jetzt, hatte sie gesagt, zum ersten Mal verliebt sei, ließ es nicht zu, daß ihre Konten, seine und ihre, nichts voneinander wüßten. Ihr Schlösserverwalter weinte eine Zeit lang. Dann fluchte er. Dann knirschte er mit den Zähnen und bewies ihr und sich selbst, daß sie nie seiner würdig gewesen sei. Helen sagte danach, in den Stunden dieser Auseinandersetzung habe sie immer daran gedacht, daß der Schlösserverwalter es trotz ihres Sträubens, trotz der erwiesenen physischen Unmöglichkeit nicht aufgegeben hatte, den Geschlechtsverkehr in ihrem Arsch praktizieren zu wollen. So drastisch redete die eher zarte, feine, flinke, nur ein bißchen lispelnde und eher reiche als nur wohlhabende Helen damals daher. Karl war begeistert. Er machte das sofort zum Thema. Seine Henriette hätte, wenn sie so etwas mitzuteilen gehabt hätte, sie hatte natürlich überhaupt nichts dergleichen mitzuteilen, einen Flor von Umschreibungen gehäkelt, nur um dieses Wort in einem solchen Zusammenhang nicht in den Mund nehmen zu müssen. Und er selber – aber das verschwieg er – konnte das schlichte Wort Helen gegenüber auch nicht gleich in den Mund nehmen. Daran war nun wirklich seine Mutter schuld, die, wenn sich die Erwähnung dieser Körpergegend gar nicht vermeiden ließ, immer vom Hintern oder gar vom Anus gesprochen hatte. Arsch kam nur im Fluch vor. Leck mich am Arsch. Wer das sagte, bewies durch die Erregung, mit der er den Fluch herausschleuderte, daß er momentan nicht zurechnungsfähig war.
Es gibt zwar keine Zufälle, aber es gibt Fügungen, deren Notwendigkeit sich schwer erschließt. Auf einem Club-Ball, den Karl versäumte, hatte Helen bei einer Tombola ein Gewinnlos gezogen. Der Gewinn, gestiftet von der Bayerischen Seen- und Schlösserverwaltung, war: Sie durfte wählen, welches Schloß sie, geführt von einem bedeutenden Kopf der Bayerischen Schlösserverwaltung, besuchen wollte. Sie wählte Neuschwanstein. Wurde geführt von Herrn Dr. Sebastian Miquel. Das war’s dann schon. Dem Schlösserverwalter gefiel das von Helens Vater erfundene und geleitete Sanatorium, in dem Leute, die nicht krank waren, noch gesünder werden konnten. Wielands Ruh genannt. Slogan: Wer es kennt, gehört
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